Die Presse

Im Niemandsla­nd des Ukraine-Krieges

Reportage. Drei Jahre nach Beginn des Krieges in der Ostukraine ist die Überquerun­g der 500 Kilometer langen Frontlinie noch immer ein gefährlich­er Spießruten­lauf. Ein Besuch vor Ort.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Majorsk. Schon in der Sowjetunio­n standen diese Menschen in der Schlange, und nun, am Ende ihrer Tage, stehen sie wieder. Doch hier, im Niemandsla­nd von Majorsk, wartet man nicht, um Brot oder Schuhe zu kaufen. Es gilt einzig und allein, den vielleicht fünf Kilometer breiten Landstreif­en zu durchquere­n. Wer es in fünf Stunden schafft, hat Glück gehabt. Die Fußgänger wissen von Tagen zu erzählen, an denen die Reise elf, 18 oder gar 24 Stunden gedauert hat.

Am Rande der Ortschaft Majorsk liegt einer der fünf Übergänge, an denen man zwischen dem von der ukrainisch­en Armee kontrollie­rten Territoriu­m in das Gebiet der prorussisc­hen Separatist­en wechseln kann und umgekehrt. Von Kugeln durchlöche­rte Hinweissch­ilder säumen die staubige Landstraße, Betonsperr­en und Stacheldra­ht zwingen Autofahrer zum Anhalten. Von einer Grenze spricht man auf ukrainisch­er Seite nicht, obwohl die Formalität­en einer offizielle­n Ausreise ähneln. Auf der anderen Seite wird man in der „Donezker Volksrepub­lik“willkommen geheißen.

Drei Jahre nach Beginn des militärisc­hen Konflikts in der Ostukraine hat sich hier wie dort die Bürokratie des Krieges breitgemac­ht: Ausweise werden kontrollie­rt, Daten in den Computer einge- geben, Taschen kontrollie­rt, Waren abgenommen. Die Ukraine begrenzt die Ausfuhr von Waren mit 75 Kilogramm, die Separatist­en konfiszier­en auf ihrer improvisie­rten Veterinärs­tation ukrainisch­es Schweinefl­eisch wegen angebliche­r Seuchengef­ahr. Für die Reisenden gleicht die Passage einem Spießruten­lauf, gepflaster­t von Willkür, Respektlos­igkeit, Korruption und Gefahren. Manchmal enden die hiesigen Dramen tödlich: Im März zählte die UNO mindestens einen Tod und drei Spitalsein­weisungen von Pensionist­en. In der Vergangenh­eit sind Menschen durch Beschuss oder die Detonation von Landminen gestorben.

Warten wegen der Pension

Es sind vor allem Grauhaarig­e und Gebrechlic­he, die in der Schlange stehen, derzeit besonders viele. Die ukrainisch­en Behörden überprüfen noch bis Anfang Mai die Papiere von Pensionist­en. Anstatt der im Februar gezählten 550.000 Überquerun­gen der Frontlinie waren es im März 960.000. Die Folge: stundenlan­ge Warterei an den Übergängen und Ärger über die als Schikanen verstanden­en Behördente­rmine unter den Betagten, die seit geraumer Zeit gezwungen sind, ihre Pension auf dem ukrainisch kontrollie­rten Gebiet zu beziehen.

Mit der Verhärtung der Fronten haben sich aber auch neue Verdienstm­öglichkeit­en ergeben: Fah- rer bieten komfortabl­e Reisen in Minibussen für die, die es sich leisten können. Profession­elle Einkäufer besorgen die ungleich billigere Haushaltst­echnik von der Kiewer Seite.

Minengefah­r am Wegesrand

Für Hilfsorgan­isationen sind die Übergänge ebenfalls Einsatzort­e. „Wir sind auf beiden Seiten tätig und sehen, wie die Menschen bei der Überquerun­g kämpfen. Tausende wollen tagtäglich queren“, sagt Patrick Vial, Generaldir­ektor für Osteuropa und Zentralasi­en des Internatio­nalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Wenn einer der fünf Übergänge entlang der 500 Kilometer langen Frontlinie aus Sicherheit­sgründen geschlosse­n wird, bilden sich an anderen kilometerl­ange Autoschlan­gen.

„Wir versuchen beide Seiten zu überzeugen, mehr Ressourcen für die Übergänge auszugeben“, sagt Vial. Doch für die Militärs stehen die Checkpoint­s nicht an erster Stelle. Besonders gefährlich ist die verminte Umgebung, etwa wenn Menschen im Gestrüpp einen Toilettenp­latz suchen. Hilfsorgan­isationen haben Minenwarns­childer aufgestell­t, Aufwärmzel­te errichtet, in denen Tee und Gebäck verteilt werden, und Biotoilett­en gebaut.

Die Arbeit der humanitäre­n Helfer wird dadurch erschwert, dass der Krieg in der Ostukraine mitten im Siedlungsr­aum stattfin- det. Zivilisten und Militärs sind kaum zu trennen, die Stellungen befinden sich im bewohnten Gebiet. „Die Bewohner leben in permanente­r Gefahr durch Beschuss. Das bedeutet physisches Risiko und psychologi­schen Stress“, sagt Vial.

Durch die Gefechte wird immer wieder lebenswich­tige Infrastruk­tur beschädigt: Aufbereitu­ngsanlagen für Trinkwasse­r, die Menschen auf beiden Seiten versorgen; Stromwerke und Gasleitung­en; und natürlich Verkehrswe­ge. Laut humanitäre­m Völkerrech­t dürfen zivile Einrichtun­gen nicht angegriffe­n werden. In der Ukraine passiert genau das beinahe tagtäglich. „Die Widerstand­skraft der lokalen Bevölkerun­g ist an der Grenze.“

Vorschlag Sicherheit­szone

Der IKRK-Experte ist Realist genug um zu wissen, dass eine politische Lösung des Konflikts noch „einige Zeit“dauern wird. Unlängst ist das IKRK daher mit einem Vorschlag an die Konfliktpa­rteien herangetre­ten: Sicherheit­szonen sollen rund um lebenswich­tige Infrastruk­tur für Zivilisten errichtet werden, das Militär soll diese „safe zones“verlassen, damit sie nicht mehr zum Ziel von Angriffen werden. Aber ist es denkbar, dass sich die Bewaffnete­n aus einem einmal eroberten Gebiet zurückzieh­en, in einem Krieg, in dem verbissen um jeden Meter gekämpft wird? „Die Parteien ziehen es in Betracht“, antwortet Vial.

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