„Unverzweckbarkeit“bedeutet, nicht zum bloßen Mittel zu werden
Es wäre gefährlich zu vergessen, woher die Idee der Menschenwürde kommt. Denn selbstverständlich ist ihre Unantastbarkeit beileibe nicht.
Vor einer Woche erschien in der „Presse“ein brillanter Leitartikel von Thomas Kramar, übertitelt mit: „Kein Rechner wird uns das Denken, kein Roboter das Fühlen abnehmen“. Am Ende seiner mit nüchterner Logik formulierten Aussagen schrieb der Autor: „Letztlich münden alle Debatten über die Zukunft, auch jene der Arbeit, in ein Verständnis unserer Natur. Und unserer Menschenwürde. Die kann uns kein Roboter und kein Computer nehmen.“
In einem Leserbrief nahm Wolfgang Bauer zu dem hier auftauchenden Begriff der Menschenwürde Stellung, die nach Artikel 1, Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes unantastbar ist. „Haben die Mörder des Islamischen Staates eine solche Menschenwürde“, fragt Bauer, „brutale Vergewaltiger, sabbernde Kinderpornoschauer?“Und er trifft mit seinen Fragen ins Schwarze. Unholden wie diesen, wirklich bösen Menschen eine „Würde“im Sinne einer Achtung gebietenden Erhabenheit zuzusprechen käme einem Frevel gleich. So gesehen ist das Gesetz von der unantastbaren Würde eines jeden Menschen unverständlich.
Tatsächlich wäre es im Sinne Kants viel besser, statt von der Menschenwürde von der – zugegeben: ein hässliches Wort – „Unverzweckbarkeit“des Menschen zu sprechen: Der Mensch ist nach Kant ein Zweck an sich. Er darf demnach nicht einem ihm fremden Zweck unterworfen werden. Niemals darf man ihn wie einen Gegenstand als Eigentum betrachten, das man braucht, verbraucht oder missbraucht. Dem Menschen, und nur ihm kommt dieses Privileg zu, weil es ihm allein gegeben ist, Zwecke, also Absichten, Vorsätze, Ziele zu erfinden.
Reduziert man den Begriff Menschenwürde auf die von Kant geforderte „Unverzweckbarkeit,“ist die Dignität verschwunden, die gemeinhin mit dem Wort Würde einhergeht. Nicht einmal den ärgsten Verbrecher bestraft der Staat mit dem Tod. Nicht weil der Übeltäter Würde im Sinne von Dignität besitzt – die hat er durch seine Untat verwirkt. Sondern weil er durch eine Exekution zu einer zu vertilgenden Sache entwertet würde, die er nicht ist. Trotz seiner Boshaftigkeit. Ja sogar wegen ihr. Denn nur der Mensch, „das unverzweckbare Wesen“, kann böse sein.
Doch selbst wenn man die Würde des Menschen als dessen „Unverzweckbarkeit“versteht, ist nicht erklärt, woher sie kommt. In den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens, in der heidnischen Antike kannte man sie nicht.
Damals kaufte man, besaß man, kommandierte man und – wenn einem danach zumute war – schändete man wie selbstverständlich Sklaven. Selbst der heilige Thomas von Aquin verteidigte unter Berufung auf Aristoteles die Sklaverei aus dem Naturrecht. Überdies konnte er sich auf den heiligen Paulus berufen, der Philemon nur bat, seinen davongelaufenen Sklaven Onesimus freundlich aufzunehmen, weil dieser Christ wurde, nicht aber dessen Sklavenstand aufzuheben. Erst im Sachsenspiegel von 1235 lesen wir: „Da der Mensch Gottes Ebenbild sei, gehöre er nur ihm und sonst niemanden.“Mit diesem Satz wurden zum ersten Mal Leibeigenschaft und Sklaverei verworfen.
Wolfgang Bauer verweist zu Recht auf die Bibel als Wurzel der Menschenwürde: „Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich, weiblich schuf er sie“, übersetzen Buber und Rosenzweig die berühmte Perikope. Im säkularen Staat aber haben weder Gott noch die unsterbliche Seele einen Platz – und das ist gut so.
Jahrhunderte bitterer Erfahrungen lehren, dass sich religiöser Glaube und profane Öffentlichkeit spießen. Wohl aber kann und soll der säkulare Staat die auf biblischem Glauben fußende Tradition als Fundament seiner Gesetzgebung heranziehen. Aus pragmatischen Gründen: Weil es dem Wohl aller offenbar am besten dient. Es wäre gefährlich zu vergessen, woher die Idee der Menschenwürde kommt. Denn selbstverständlich ist ihre Unantastbarkeit beileibe nicht.