Die französische Systemkrise
Präsidentenwahl. Vor dem Urnengang am Sonntag gibt es so viele Unentschlossene wie nie. Das Vertrauen in die Institutionen ist dramatisch gesunken.
Paris. Der jüngste Terrorangriff auf den Champs E´lyse´es in Paris in der Nacht zum Freitag, als die elf Präsidentschaftskandidaten in einer TV-Debatte ihr Programm präsentierten, hat für manche Wähler vor dem ersten Wahlgang am Sonntag vielleicht noch eine Entscheidungshilfe gegeben. Noch nie waren indes so viele Menschen – rund ein Viertel der Wahlberechtigten – so unschlüssig, wem sie ihr Vertrauen schenken würden.
In Onlineforen tauchte die Forderung auf, die Wahlen zu annullieren, sollten die ungültigen Stimmen eine relative Mehrheit ausweisen. Viele Franzosen wollen ihre demokratische Bürgerpflicht wiederum für einen antipolitischen Jux nutzen, indem sie aus Protest für einen der chancenlosen Außenseiter wie Jean Lassalle oder Philippe Poutou stimmen.
Hinter dieser Form der Demokratieverweigerung steht die Enttäuschung über die Präsidenten der vergangenen 20 Jahre. Was hatten sie nicht alles versprochen, und wie wenig haben sie letztlich gehalten: Dies ist ein weitverbreiteter Eindruck und der Grund ihrer Frustration. 2002 haben sie Jacques Chirac wiedergewählt, um den Vormarsch des Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen zu stoppen. Heute ist der Front National stärker denn je. 2007 haben sie für Nicolas Sarkozy votiert, damit Frankreich im Wettbewerb stärker würde. Das Gegenteil war der Fall. 2012 schließlich verhalfen sie Francois¸ Hollande zur Macht. Er wollte ein „normaler“Präsident sein, verpasste seine Chance aber aus Zaghaftigkeit.
Beide Volksparteien, Republikaner wie Sozialisten, sind in einer Krise. Ihre Präsidentschaftskandidaten gehören laut Umfragen nicht zu den Favoriten für die Stichwahl, und womöglich werden sie gemeinsam weniger als ein Drittel der Stimmen auf sich vereinen. Die Vorwahlen in beiden Parteien haben zwar klare Gewinner hervorgebracht. Im Nachhinein stellt sich jedoch heraus, dass sie nicht unbedingt die aussichtsreichsten Anwärter auf die Nachfolge von Francois¸ Hollande sind. Viele Wähler äußerten vor dem Urnengang ihre Unzufriedenheit mit dem Kandidatenfeld. Sie müssen sich deshalb mit dem „geringsten Übel“zufriedengeben.
Der Populismus der Kandidaten
Als eigentliches Problem der Präsidentenwahl manifestiert sich in der Debatte die Krise des „Systems“. Immer mehr Franzosen stellen nicht nur die Präsidenten und die Parteien infrage, sondern generell die Institutionen und Eliten der Fünften Republik. Darum versuchen auch alle Kandidaten – jeder auf seine Weise –, das Misstrauen der Bürger für sich zu instrumentalisieren. Marine Le Pen vom Front National hat in Marseille zu einem „nationalen Aufstand“aufgerufen, der linke Volkstribun Jean-Luc Me-´ lenchon mobilisiert das Volk gegen die „Parasiten der Finanzoligarchie“, der Linksliberale Emmanuel Macron spottet über das überholte Links-rechts-Schema, und der „Schlafwandler“der Parteien und Medien, der Konservative Francois¸ Fillon, wittert hinter den Enthüllungen über die Scheinbeschäftigungsaffäre seiner Frau ein Komplott des „Systems“.
Keiner der elf Kandidaten will Kontinuität verkörpern, alle bezeichnen sich als entschiedene Gegner oder manchmal sogar als Opfer des „Systems“– und alle versprechen einen wesentlichen oder gar radikalen Wandel. Das System der von General Charles de Gaulle nach 1958 geschaffenen Fünften Republik hat bisher noch jede Kritik überlebt. Der Sozialist Francois¸ Mitterrand kritisierte die Verfassung als „permanenten Staatsstreich“– und nach seiner Wahl zum Präsidenten hat er sich bestens damit arrangiert.