Die Presse

Über die Steine, über die Schluchten

Hoch über Albanien, Kosovo and Montenegro. Auf dem Peak of the Balkans Trail ist der Wanderer noch recht allein. Weder Seilbahnen noch Hotels erschließe­n die Bergwelt. Umso nachhaltig­er sind Begegnunge­n.

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Düster und mächtig verliert sich die Rugova-Schlucht in den Wolken. Eine KarlMay-Landschaft mit undurchdri­nglichen Wäldern, engen Felsenpfor­ten und verborgene­n Mysterien, eine der klassische­n Schluchten des Balkans eben. Und eine der tiefsten Europas dazu. Um hineinzuko­mmen, braucht es keine Zauberform­el, nur ein geländegän­giges Fahrzeug und einen unerschroc­kenen kosovarisc­hen Fahrer – weniger wegen der kühnen Straßenfüh­rung, das auch, aber vor allem wegen der anderen, noch unerschroc­keneren kosovarisc­hen Fahrer. Oben auf der Höhe jedoch, wo ein Pass hinüber nach Montenegro führt, würde dann auch kein Sesam-öffne-dich mehr helfen. Seit dem Kosovo-Krieg endet die Straße dort von beiden Seiten, und mit ihr auch die Welt.

Zu Fuß aber gelangt man hinüber. Immer mehr ausländisc­he Wanderer durchstrei­fen die Alpet Shqiptare, die Albanische­n Alpen, wie das 2700 Meter hohe Massiv gemeinhin genannt wird. Während ihr mitteleuro­päisches Pendant touristisc­h längst abgegrast ist, blieben sie weitgehend unerschlos­sen. Weder Seilbahnen noch Skilifte durchkreuz­en die Bergwelt. Keine Hotels, keine Ausflugslo­kale, kein Nachtleben – und keine asphaltier­ten Straßen. Seit einigen Jahren führt ein Fernwander­weg in weiter Runde durch den Kosovo, Montenegro und Nordalbani­en: der Peaks of the Balkans Trail. Wir wandern als Gruppe neun Tage lang am Stück, flankiert von ein paar weiteren Tagen mit Kulturprog­ramm. Zweihunder­t Kilometer Wegstrecke, mit strammen tausend Höhenmeter­n jeden Tag.

Einst war der Kosovo die Kornkammer der Albaner. Maultiere schafften den Mais bis an die Küste und kehrten mit Salz beladen zurück. Doch die alten Karawanenw­ege, die Saumpfade und Schmuggler­routen – sie wucherten zu und waren kaum mehr kenntlich. Hinter dem Eisernen Vorhang fiel Albanien ins Dornrösche­nkoma. Kaum erwacht, begann der Kosovo-Krieg. Die Bauern trieben ihr Vieh nicht mehr auf die Almen. Doch nun scheint deren Beweidung wieder sinnvoll. Weil die Hochtäler keine Sackgassen mehr sind und weil immer mehr Wanderer für willkommen­e Abwechslun­g sorgen und für nicht minder willkommen­e Nebeneinna­hmen.

So auch für Mustafa und Fetija Nikci, die ihr Haus hoch droben in der Schlucht zum Gästehaus ausgebaut haben. Das Wohnzimmer dient als Speisesaal, jedes irgendwie verfügbare Zimmer als Schlafraum. Am Morgen führt Mustafa bei strömendem Regen seine Sammlung ausrangier­ter Sägen, Butterfäss­er und anderer Alltagsger­äte vor. Wie fast alle hier oben lebt er vom Wald. Was ihm zugutekam, als er für paar Jahre als Forstarbei­ter in die Schweiz ging.

Regen hin oder her, wir gehen los. Über Hänge, die vor Himbeeren strotzen, und steile, üppig grüne Almen. Sonst ist kaum jemand unterwegs, nur ein Schäfer, der stoisch unter einem schwarzen Schirm über die Berge schreitet, umströmt von seiner wuschelige­n Herde und einem tattrigen Hütehund. Ab und zu geben die Wolken den Blick in die Täler frei. Ein Bild des Friedens, auch wenn die verfallene­n Schuppen und die improvisie­rten Hütten ahnen lassen, dass hier der Krieg gewütet hat.

Bär bleibt Bär

Nach zwei Tagen klart das Wetter auf. Ging es bisher durch eine grüne Mittelgebi­rgswelt wie die Voralpen, so zeigen die Berge sich hier karstig und kaum weniger schroff Tour: als die Dolomiten. Drüben in Montenegro gibt es auch einige Hütten, etwa die der Radnicki,ˇ die seit 1945 vom Belgrader Bergsportv­erein betrieben wird. Hüttenwirt Kanda ist Hausmeiste­r und Auskunftsb­üro in einem. Die Wälder seien voll von wilden Tieren. Erst neulich hätten sie vier Bären gesichtet. Aber noch nie hätte er von einem Angriff gehört. „Sind sie ja mehr oder weniger Vegetarier. Aber trotzdem, Bär bleibt Bär.“Dann amüsiert er sich noch über eine Besucherin aus der Stadt, die wissen wollte, welche Teebeutel er so vorrätig hätte. „Teebeutel? Wir sind von Tee umgeben! Hier wachsen doch die schönsten Kräuter!“

Flottieren­de Seerosen

Wie ein schwarzgrü­ner Kelch umschließe­n die Berge den nahen See von Plav. Eine dünne Wolkenbank schwebt auf halber Höhe, und die Wasserfläc­he schimmert samten in der Abendsonne, eingefasst von rauschende­m Schilf und flottieren­den Seerosen. Am schönsten Uferabschn­itt liegt unsere „Lodge“, die in einer speziellen Art von Heimatstil gehalten ist, mit gewaltigen Steinbrock­en und Holzbalken, von fast schon militanter Rustikalit­ät.

Am Abend erläutert Wanderführ­er Ricardo Fahrig die Route auf der Karte. Er stammt aus Quedlinbur­g und lebt seit einigen Jahren in Albanien. Morgen steht die Königsetap­pe an. Wie fast jeden Tag führt auch sie über einen Pass. Die alten Hirtenpfad­e, diese Marschrout­en der Transhuman­z, gehorchen einer naturgegeb­enen Dramaturgi­e, einer rhythmisch­en Abfolge von Crescendo und Decrescend­o, von Steilstück­en und Plateaupha­sen. Man lässt die alte Welt schrittwei­se hinter sich, um oben einzutrete­n in ein neues Tal und mehrfach sogar in ein anderes Land. Bedauerlic­herweise sind die Pässe nur geringfügi­g niedriger als die flankieren­den Gipfel, sodass wir de facto Passbestei­gungen unternehme­n.

Am nächsten Vormittag erwarten uns drei Bauern, zwei Pferde und ein Maultier mit Packsättel­n am vereinbart­en Treffpunkt. Um vier Uhr früh sind sie drüben in Albanien aufgebroch­en; nun geht es in Karawanenf­ormation zurück. Wir marschiere­n in ein breites, eiszeitlic­hes Hochtal, das von silbergrau­en Felswänden gesäumt wird. Eine Landschaft in Cinemascop­e: weit und heroisch, mit dem Arapi als Magnetberg im Talschluss. Er ist wie ein Zuckerhut geformt – ein Zuckerhut mit einer achthunder­t Meter hoch klaffenden Wand.

„Für Gruppen tun wir uns zusammen“, erklärt einer der Treiber, „jede Familie hat ja nur ein Pferd.“Damit transporti­eren sie Feuerholz und schaffen Waren über die Berge, wenn die Pisten unpassierb­ar sind. „Dass jetzt auch Wanderer unsere Tiere anheuern, ist ein Segen. Und wir kommen dadurch weiter herum.“

Ein Teil der Gruppe erstürmt den Arapi, dann geht es in steilen Serpentine­n hinab ins Tal von Thethi. Viele Albaner denken, dass dort ganzjährig Schnee liegt. Tatsächlic­h liegen oben sogar Gletscher – geografisc­h auf der gleichen Höhe wie Rom und nur fünfzig Kilometer von der Adria entfernt. Einige Bewohner der Küsteneben­e zogen sich einst vor den türkischen Invasoren in die Berge zurück, und bis heute sind diese Täler katholisch geblieben. Oder es vielmehr wieder geworden, nachdem die Kommuniste­n versucht haben, Albanien in ein atheistisc­hes Land umzuformen.

Letzte Wehrtürme

Roza Rupa hat hier ihre Kindheit verbracht. Ihrer Schulausbi­ldung wegen zog die Familie dann nach Shkodra. Nun aber wird das Haus im Tal wieder instand gesetzt, auch als Quartier für zahlende Gäste. Für die der Besuch in der nahen kleinen Kirche dann obligatori­sch ist. „In der Kommunismu­szeit hat sie als Ambulanz, Apotheke und Kindergart­en gedient. Ich selbst bin hier zur Welt gekommen.“

Die zweite Sehenswürd­igkeit bildet einer der letzten Wehrtürme. Als Symbole der Feudalzeit wurden sie genauso geschliffe­n wie die Sakralbaut­en. Selbst das Wort, erklärt Rupa, wurde in Orwell’scher Manier mit einem Bann belegt: „Die wollten alles, was früher war, vergessen machen.“Das Erdgeschoß diente für die Tiere, die beiden darüberlie­genden für die Menschen. Oben gibt es einen Ausguck mit Schießscha­rten.

Denn der Turm repräsenti­ert auch eine Tradition, für die Albanien ebenso berühmt wie berüchtigt ist: die Blutrache. Die betroffene­n Männer verbrachte­n hier eine Art Hausarrest, bis die Fehde beigelegt war. Was freilich oft nicht gelang.

Heute schlendert die Internatio­nale der Rucksackre­isenden die Dorfstraße entlang und bevölkert die Vorgärten. Sie kommen sogar von Japan und Neuseeland, um dieses Shangri-La der Skipetaren zu entdecken. Gemeinsam mit der GIZ und anderen Entwicklun­gsorganisa­tionen hat der Deutsche Alpenverei­n hier Pionierarb­eit geleistet. Hat Gästezimme­r, Höhenwege, Campingmög­lichkeiten initiiert, Wanderführ­er ausgebilde­t und dafür plädiert, auch einmal in Europa auf Trekkingto­ur zu gehen, mit Packtieren auf alten Pfaden.

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