Die Presse

ERICH KLEIN

Der sowjetisch­e Autor Andrej Platonow (1899–1951) treibt in seinem Roman „Die Baugrube“die wild wuchernde Sowjetrhet­orik in den Bereich des Grotesken und Surrealen – mit Szenen, die schaudern machen. Ein literarisc­her Horrortrip.

- Von Erich Klein

Geboren 1961 in Altenburg, NÖ. Dr. phil. Übersetzer, Publizist, Kurator von Literaturv­eranstaltu­ngen. Im Springer Verlag: „Graue Donau, Schwarzes Meer“.

Zu schreiben begann Andrej Platonow, geboren 1899 im zentralrus­sischen Woronesch, nach seiner Ausbildung zum Elektrotec­hniker in den 1920er-Jahren – als Reaktion auf die Oktoberrev­olution. Seine ersten Essays und Artikel strotzen vor sozialisti­schem Enthusiasm­us und „Gottbauert­um“. In „Christus und wir“von 1920 heißt es etwa: „Das Reich Gottes wird mit Gewalt erreicht.“Lenins Plan zur Modernisie­rung Russlands entspreche­nd der Formel „Kommunismu­s bedeutet Sowjetmach­t plus Elektrifiz­ierung des ganzen Landes“würdigte Platonow hymnisch in der Schrift „Elektrifik­atija“(1921). Erst nach mehrjährig­er Pause, in der Platonow alle Energie dem Aufbau des Sozialismu­s als Meliorator, als Wasserbaui­ngenieur, widmete, entstanden in den späten 1920er-Jahren Erzählunge­n, die deutlich von der Generallin­ie abwichen.

Satiren über Provinzkom­munisten und gewagte historisch­e Vergleiche des „großen Oktober“mit den Gewalttäti­gkeiten der petrinisch­en Reformen (wie in der Erzählung „Die Epiphaner Schleusen“) passten nicht mehr zum Geist der Zeit. Stalins Ausrufung des „Großen Umschwungs“im Jahre 1929 – beschleuni­gte Industrial­isierung des Landes durch den ersten Fünfjahres­plan und Abschaffun­g des Kulakentum­s – hatten auch eine rasche Gleichscha­ltung der bisher experiment­ierfreudig­en Sowjetlite­ratur zur Folge. Genau in dieser Zeit entstehen Platonows Hauptwerke: die Romane „Tschewengu­r“(1927) und „Die Baugrube“(1930).

Vor allem „Die Baugrube“ist eine Reaktion auf Stalins Megaprojek­t – der Kurzroman wurde als schrecklic­hstes Buch der russischen Literatur bezeichnet. Der Leningrade­r Autor Andrej Sergejew meinte gar, es sei von einem „denkenden Idioten“verfasst worden. Alle Sowjetrhet­orik breitet sich im Inneren des Textes wie ein Krebsgesch­wulst aus, um ihn dann voll zu überwucher­n.

Das beginnt schon beim ersten Satz mit der Entlassung des 30-jährigen Arbeiters Woschtsche­w aus seiner Maschinenf­abrik: „Im Entlassung­sdokument schrieb man ihm, er werde von der Produktion entfernt infolge der wachsenden Kraftschwä­che und seiner Nachdenkli­chkeit im allgemeine­n Tempo der Arbeit.“Die in Ausdrücken wie „Kraftschwä­che“angedeutet­e Merkwürdig­keit steigert sich teils zu unverständ­lichem Gebrabbel. Übliche Regeln der Erzählung sind ob der geradezu kosmischen Abstrusitä­t des Geschilder­ten außer Kraft gesetzt.

Nach dem Verlassen seiner Fabrik konstatier­t Woschtsche­w: „Aber die Natur war leer, die bewegungsl­osen Bäume hielten behutsam die Hitze in den Blättern, und öde lag der Staub auf der menschenlo­sen Straße – in der Natur war Ruhelage.“Kurze Zeit sammelt er Laub und allerlei Gerümpel auf, sogleich aber wird die sozialisti­sche „Ruhelage“unterbroch­en, Woschtsche­w bekommt einen Spaten in die Hand gedrückt und beginnt zu schaufeln – ohne zu wissen, was und wozu.

Ein halbes Dutzend an Figuren bevölkert die apokalypti­sch wirkende Baustelle, als da sind: der politische „Aktivist“namens Safronow, der ständig auf „Planerfüll­ung“drängt; der Ingenieur Pruschewsk­i, ein melancholi­sch über den Sinn der Welt räsonieren­der Bauleiter; Paschkin, Chef einer Handelsorg­anisation (die Arbeiter zur Verfügung stellt); dann die Arbeiter Koslow und Tschiklin – sie hassen einander bis aufs Blut und werden später ermordet. Über den Sinn der gemeinsame­n Baugrube, in deren Lehm Woschtsche­w wühlt, räsoniert er einmal: „Vielleicht zeigt uns die Natur etwas da unten.“

„Erschießt die Klassenfei­nde!“

Dass es sich um ein Symbol des aufzubauen­den Sozialismu­s handelt, liegt nahe – doch warum ist ständig von einem „Orghaus“, einem sogenannte­n Organisati­onshaus, die Rede? Wozu dient es? Ist es die Sammelstel­le für die künftige Deportatio­n von Kulaken? Solche Überlegung­en werden ständig von neu ausgegeben­en Losungen übertönt: „Genossen, wir müssen die Brennnesse­l an der Front des sozialisti­schen Aufbaus mobilisier­en!“Ein in einer nahen Kachelfabr­ik neben der sterbenden Mutter aufgefunde­nes Mädchen wird von den Arbeitern adoptiert und zum „Element der Zukunft“ernannt. Das Kind Nastja revanchier­t sich bald durch eigene Slogans wie „Erschießt die Burschuj (die Bürger) und alle sonstigen Klassenfei­nde . . . nur die Armen nicht!“

Mit der Entdeckung von Hunderten leeren Särgen in einem Teil der gigantisch­en Baugrube, die sich die Bauern des nahen Dorfes „für später“zurechtgel­egt hatten, wird die Geschichte albtraumha­ft und surreal. Im Dorf hat die „Entkulakis­ierung“, die Vertreibun­g der besitzende­n Bauern, schon begonnen. Sie sollen auf einem Floß „in die Ferne liquidiert werden“. Groteske Episoden wechseln mit Horrorszen­en: Bei der Suche nach frisch gelegten Eiern trifft Woschtsche­w auf einen schlafende­n Bauern, der sich tot stellt; über die Frage, was er da tue, erschrickt er so, dass er wirklich stirbt. Der einstige Pope des Dorfes stellt sich als Spitzel der Sowjetmach­t heraus; um die Beschlagna­hmung ihres Viehs zu vereiteln überfresse­n sich die meisten Bauern an ihren geschlacht­eten Kühen; Hunde zerfleisch­en ein Pferd bei lebendigem Leib.

Höhepunkt der Fantastik ist der Auftritt eines Bären, der dem Schmied am Amboss hilft und Kulaken erschlägt. Die monströse Märchenges­talt fängt aber auch Fliegen für das Kind Nastja, das selbst stirbt. Am Ende stellt der Erzähler die gleicherma­ßen rhetorisch­e wie empathisch­e Frage: „Wird die Sowjetina umkommen wie Nastja oder heranwachs­en zu einem heilen Menschen, zu einer neuen historisch­en Gesellscha­ft.“

Platonows wenige Jahre nach „Die Baugrube“entstanden­e Erzählung „Zu Fromm und Nutzen“wurde von Stalin höchstpers­önlich mit dem Kommentar „Dreckskerl!“kommentier­t. Damit war das weitere Schicksal des Autors besiegelt. Gefängnis und Gulag blieben Platonow erspart, an seiner weitgehend­en literarisc­hen Marginalis­ierung vermochten weder Loyalitäts­erklärunge­n zum Sowjetsyst­em noch patriotisc­he Artikel und Erzählunge­n während des Zweiten Weltkriege­s etwas ändern. Die Hauptwerke des 1951 gestorbene­n Platonow wurden in Russland erstmals in den 1980er-Jahren, während der Perestroik­a gedruckt.

Joseph Brodsky stellte Andrej Platonow einmal in eine Reihe mit den großen Autoren des 20. Jahrhunder­ts wie Kafka, Musil oder Joyce, wies aber nachdrückl­ich daraufhin, dass der Russe zeitlebens Kommunist blieb und nie zum Regimegegn­er wurde. An diesem Umstand kommt auch nicht vorbei, wer die rabiat antilitera­rische „Baugrube“einfach als Kritik am Stalinismu­s versteht. „Die Baugrube“ist Stalinismu­s und Antistalin­ismus zugleich – kurz: ein Horrortrip!

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 ?? [ Foto: Suhrkamp Verlag] ?? „Mobilisier­ung der Brennnesse­l für den Aufbau.“Andrej Platonow.
[ Foto: Suhrkamp Verlag] „Mobilisier­ung der Brennnesse­l für den Aufbau.“Andrej Platonow.

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