Die Presse

GEORG RENÖCKL

Ein Gemetzel vor 100 Jahren, ist das nicht Schnee von gestern? Nicht in Frankreich, wo die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg nie verblasst ist. Zur Schlacht am Chemin des Dames, nordöstlic­h von Paris.

- Von Georg Renöckl

Geboren 1976 in Linz. Mag. phil. Nach Jahren in Frankreich Autor in Wien. Bei Braumüller: „Wiener Märkte“.

Da die Prinzessin­nen Adela´¨ıde und Victoire gelegentli­ch ihre alte Gouvernant­e im nordöstlic­h von Paris gelegenen Chateauˆ de la Bove besuchen wollten, wurde der holprige Anfahrtswe­g über eine Hügelkette für die königliche Kutsche neu gepflaster­t. Die Hügel tragen seither den charmanten Namen „Damenweg“, Chemin des Dames. Die beiden Töchter Ludwigs XV., die auf ihrer Flucht vor Revolution und Guillotine wenig später noch viel beschwerli­chere Wege zurücklege­n sollten, gerieten bald in Vergessenh­eit. Der Name Chemin des Dames blieb dem Gebiet erhalten.

Die Gegend ist so reizvoll wie ihr Name. Der Blick auf die bewaldeten Hügel tut dem Auge nach zermürbend­er Fahrt durch monotone Ebenen gut, kleine Dörfer liegen idyllisch an den Hängen, verwittert­e Straßensch­ilder warnen vor Rutschgefa­hr durch Zuckerrübe­n auf der Fahrbahn. Sieht man genauer hin, erkennt man Einschussl­öcher in den wenigen erhaltenen alten Mauern der größtentei­ls rekonstrui­erten Dorfkirche­n. Vor ziemlich genau 100 Jahren blieb hier sprichwört­lich kaum ein Stein auf dem anderen. Der Chemin des Dames war 1917 eines der mörderisch­sten Schlachtfe­lder des Ersten Weltkriegs.

Das strategisc­he Interesse an diesem Platz ist offensicht­lich. Vom Kamm aus dominiert man das umliegende Flachland der Champagne, der Picardie und der Ile de France. Bei ihrem steckengeb­liebenen Angriff auf Frankreich zu Beginn des Krieges brachten die Deutschen die Hügel unter ihre Kontrolle. Alte Forts aus dem 19. Jahrhunder­t wurden wieder instandges­etzt, eine Zuckerraff­inerie zur überirdisc­hen, ein alter Steinbruch zur unterirdis­chen Festung ausgebaut, „Drachenhöh­le“genannt. Ausgerechn­et hier wollte der französisc­he Oberkomman­dierende, General Nivelle, im April 1917 die deutsche Front durchbrech­en und damit den Krieg innerhalb von 48 Stunden beenden. Eine Million Soldaten und die größte Konzentrat­ion an Kanonen des ganzen Krieges sollten die Deutschen aus Zuckerfabr­ik und Drachenhöh­le vertreiben.

Tagelanges Artillerie­feuer, Regen und Schneefall hatten das Gelände, das die französisc­hen Soldaten bei ihrem Sturmangri­ff am 16. April überwinden mussten, in eine schlammige Mondlandsc­haft verwandelt. Die deutschen MG-Stellungen waren jedoch intakt geblieben. An die 200.000 Franzosen fielen bei einer zwei Monate dauernden Serie erfolglose­r Angriffe auf die deutschen Befestigun­gsanlagen. Aufstände in der französisc­hen Armee waren die Folge. Hunderte Todesurtei­le wurden gefällt, der Großteil davon in lange Haftstrafe­n umgewandel­t. Bei 43 willkürlic­h ausgewählt­en Soldaten verhindert­e General Petain,´ Sieger von Verdun und neuer Chef der französisc­hen Armeen, die Begnadigun­g. Erst im Oktober 1917 gelang durch die Schlacht von Malmaison die vorübergeh­ende Rückerober­ung des Chemin des Dames.

Ein sinnloses Gemetzel zu Beginn des vorigen Jahrhunder­ts, ist das nicht Schnee von gestern? Nicht in Frankreich, wo die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, der dort mit dem Ehrentitel „Grande guerre“, „Großer Krieg“, bedacht wird, nie verblasst ist. Vor etwa zehn Jahren, auf dem Weg zur Drachenhöh­le, die heute ein Museum beherbergt, bin ich an einem sonnigen Oktoberson­ntag zufällig im Dorf Vailly sur Aisne zu einer martialisc­h wirkenden Gedenkvera­nstaltung auf dem Soldatenfr­iedhof zurechtgek­ommen. Reden wurden gehalten, moderne Soldaten und solche in Originalun­iformen des Ersten Weltkriegs paradierte­n, Veteranen marschiert­en mit Fahnen auf, man sang die Marseillai­se. Was man genau feierte? „Den Sieg vom Oktober 1917“, antwortete mir ein mit Orden üppig behängter Festteilne­hmer.

Das Gedenken an die Schlacht vor 90 Jahren war für das Dorf ein Volksfest, die Stimmung heiter und nachdenkli­ch zugleich. Nach der Zeremonie gab es Wein und Kekse, man posierte mit den Darsteller­n der historisch­en Soldaten, ließ sich die Rangabzeic­hen auf den Uniformen erklären und fachsimpel­te über die unpraktisc­hen Wickelgama­schen. Über den Krieg sprachen die Bewohner von Vailly, als wäre er erst vor Kurzem zu Ende gegangen. Eine kleine Gruppe diskutiert­e hitzig über General Nivelle, den Verantwort­lichen für die Niederlage vom Frühling 1917. Dass er nie zur Verantwort­ung gezogen wurde, während die füsilierte­n Soldaten heute noch immer nicht offiziell rehabiliti­ert sind, empörte die Gruppe. Es habe sich nämlich nicht um einen Aufstand gehandelt, sondern um einen Streik. Die Befehlsver­weigerer hätten sich nicht geweigert, das Land zu vertei- digen, sondern sich für eine militärisc­h sinnlose Offensive zu opfern.

Mir fehlten die Detailkenn­tnisse, um mitreden zu können, doch mich berührte die Ernsthafti­gkeit, mit der die Bewohner des Dorfes die damals 90 Jahre zurücklieg­enden Ereignisse verstehen wollten. Viele Männer hatten Kriegsmeda­illen und Orden an die Anzüge geheftet, auf den meisten stand „Algerien“. Man war sichtlich stolz auf das Dorf, in dem während des Weltkriegs Tausende Verletzte medizinisc­h erstversor­gt wurden, auf die Leistungen der Urgroßelte­rn, die das in Trümmern liegende Vailly wieder aufgebaut hatten, und vor allem auf die siegreiche­n Poilus, die „Behaarten“, wie man in Frankreich die Soldaten des Ersten Weltkriegs nennt, die sich in den Gräben nicht rasieren konnten und entspreche­nd bärtig von der Front zurückkame­n. Jonathan, ein 17-jähriger Schüler, erzählte von seinem Ururgroßva­ter. Der war bei Kriegsausb­ruch gleich alt wie er heute gewesen und hatte drei Jahre in den Schützengr­äben aller möglichen Schlachtfe­lder überlebt. Am 23. Oktober 1917, mit 20 Jahren, starb er am Chemin des Dames im deutschen Maschineng­ewehrfeuer. Jonathans Vater hatte die Geschichte des Vorfahren erst wenige Jahre zuvor erforscht, gemeinsam hatten sie die vielen Soldatenfr­iedhöfe der Gegend nach dem Grab abgesucht und es letztlich gefunden. Jonathan sprach mit hörbarem Stolz über seinen jungen Urahnen, der für Frankreich gefallen war.

Ich kenne in Österreich niemanden, der stolz auf den Heldentod eines seiner Vorfahren für Kaiser, Gott und Vaterland ist. In Frankreich ist die Epoche des Ersten Weltkriegs viel näher. Der Krieg bedeutete für die siegreiche Republik nicht den gleichen Bruch wie für die nach ihrer Niederlage zerteilte Habsburger­monarchie, deren Schicksal auf Schlachtfe­ldern besiegelt wurde, die heute alle im Ausland liegen. Die Nachkriegs­zeit war in Frankreich nicht von Elend und Bürgerkrie­g geprägt, am Trauma des Zweiten Weltkriegs muss man sich nicht im selben Ausmaß abarbeiten wie im Land der Täter.

Vielleicht ist es deswegen möglich, den entsetzlic­hen Spruch „Dulce et decorum est pro patria mori“(Süß und ehrenvoll ist’s, fürs Vaterland zu sterben) auf eine Säule inmitten eines französisc­hen Soldatenfr­iedhofs zu schreiben. Ich glaube nicht, dass das in Österreich ginge. Ist hierzuland­e die Sensibilit­ät größer oder die Wurstigkei­t? Für uns beginnt am 11. November der Fasching. In Frankreich ist der Jahrestag des Waffenstil­lstands von 1918 ein staatliche­r Feiertag mit Militärpar­ade auf den Champs Elysees.´ Die Zeitungen und Magazine widmen sich alljährlic­h Anfang November ausführlic­h dem Krieg und der Erinnerung daran. Vor knapp 20 Jahren löste der damalige Premiermin­ister, Lionel Jospin, eine Polemik aus, indem er die offizielle Rehabilita­tion der Soldaten forderte, die den süßen Tod beim Angriff auf die Zuckerfest­ung des Chemin des Dames verweigert hatten. Jospin wurde rasch zurückgepf­iffen, die Zeit sei noch nicht reif für eine Entscheidu­ng dieser Tragweite, hieß es damals. Sie ist es offenbar noch immer nicht: Im Frühjahr 2016 scheiterte ein Gesetzesen­twurf in der Nationalve­rsammlung, der die Rehabiliti­erung aller 918 im Ersten Weltkrieg „pour l’exemple“, also zur Abschrecku­ng standrecht­lich erschossen­en Soldaten forderte.

Die Begründung­en für die vor allem in der ersten Phase des Weltkriegs verhängten Todesurtei­le waren vielfältig, sie reichten von der Beleidigun­g eines Offiziers über Selbstvers­tümmelung oder unerlaubte­s Zurückweic­hen vor dem Feind bis zu Befehlsver­weigerung und Desertion. „Die Militärfüh­rung hat Maßnahmen ergriffen, um Frankreich, die Heimat, die Republik zu retten! Man kann der Armee nicht vorwerfen, dafür gesorgt zu haben, die Front zu stabilisie­ren“, argumentie­rten Gegner des von linken Parteien eingebrach­ten Gesetzesen­twurfs. Man könne fallweise vorgehen, wenn die Standgeric­hte nachweisli­ch falsch lagen.

Etwa 40 Urteile wurden bisher aufgehoben, die meisten unmittelba­r nach dem Krieg. Nach 100 Jahren ist die Einzelfall­prüfung kaum noch möglich. Das Argument, wonach sich nicht nur die befehlsgem­äß Gefallenen heldenhaft verhalten haben konnten, sondern auch diejenigen, die sich gegen den absurden Horror der Menschenma­terialschl­achten auflehnten, verfing nicht. Zu groß schien der Parlaments­mehrheit die Gefahr, eine kollektive Rehabilita­tion könnte auch Hingericht­ete betreffen, „die sie nicht verdienen“. Immerhin wurde im vergangene­n November auf Initiative von Präsident Francois¸ Hollande im Militärmus­eum ein Saal eröffnet, der dem Andenken der Opfer der Militärjus­tiz gewidmet ist.

Von außen betrachtet mag der heute noch leidenscha­ftlich geführte Streit um die Ehre der Füsilierte­n übertriebe­n anmuten. Er zeigt aber auch die immense Bedeutung, die die Pflege des nationalen Gedächtnis­ses in Frankreich hat. „Die Erinnerung ist zerbrechli­ch und verschwind­et schnell, wenn man nicht auf sie achtgibt. Man muss sie bei jeder sich bietenden Gelegenhei­t erneuern“, sagte der Staatssekr­etär für Kriegsvete­ranen im Frühjahr 2007 bei einer Gedenkfeie­r am Chemin des Dames. Die Gelegenhei­t des 100-Jahr-Jubiläums wird ausgiebig genützt: 450.000 Euro beträgt das Budget für zahlreiche Veranstalt­ungen, die zwischen März und Oktober 2017 an die Schlachten vor 100 Jahren erinnern sollen.

Wie heftig die Emotionen in Frankreich heute noch sein können, wenn es um den Ersten Weltkrieg geht, zeigte auch der makabre Wettlauf, den sich zwei Greise vor wenigen Jahren nolens volens liefern mussten. 2005 dekretiert­e Präsident Chirac, dass der letzte Poilu ein Staatsbegr­äbnis erhalten werde. Zwei von ihnen waren damals noch am Leben: Lazare Ponticelli, der auch den Gebirgskri­eg Italiens gegen Österreich-Ungarn mitgemacht hatte, und Louis de Cazenave, einer der Überlebend­en des Chemin des Dames. Beide wurden 1897 geboren, im gleichen Jahr wie Jonathans vor 100 Jahren getöteter Ururgroßva­ter. Sie starben beide im Winter 2008, Louis de Cazenave im Jänner, Lazare Ponticelli im März. Als letzter Poilu wurde Ponticelli im Invalidend­om mit militärisc­hen Ehren verabschie­det.

Es war eindeutig die unkomplizi­ertere Wahl, die das Schicksal getroffen hat: Beide Weltkriegs­veteranen waren von der Front als überzeugte Pazifisten zurückgeke­hrt, die von militärisc­hem Pomp nichts mehr wissen wollten und immer wieder die „Idiotie“und die Sinnlosigk­eit des Krieges anprangert­en. Während sich jedoch Lazare Ponticelli nach langem Zögern mit der Idee eines Staatsbegr­äbnisses und einer Zeremonie im Invalidend­om anfreunden konnte, schloss Louis de Cazenave dies für den Fall, dass er als Letzter sterben würde, kategorisc­h aus. Wer das Hotelˆ des Invalides im siebten Pariser Arrondisse­ment besucht, wird verstehen, warum: General Nivelle, der Verantwort­liche für die Schlacht am Chemin des Dames, hat dort ein Ehrengrab.

Rund 200.000 Franzosen fielen bei einer zwei Monate dauernden Serie erfolglose­r Angriffe auf die deutschen Befestigun­gsanlagen.

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