Die Presse

Wenn Ideologieg­ebäude des 20. Jahrhunder­ts einfach einstürzen

Die Frankreich-Wahl zeigt erneut: Wir brauchen eine politische Ökonomie des 21. Jahrhunder­ts. Mit alten Rezepten lässt sich der Umbruch nicht managen.

- E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

V or der Stichwahl in Frankreich tut sich auf wirtschaft­spolitisch­em Gebiet Seltsames: Die europäisch­e Linke fiebert praktisch geschlosse­n mit dem ehemaligen Rothschild-Investment­banker (mehr „Klassenfei­nd“geht wohl nicht) Emmanuel Macron mit, der die Staatsausg­aben senken, den öffentlich­en Dienst verkleiner­n, die Unternehme­nssteuern reduzieren und die Dienstleis­tungen liberalisi­eren will. Ein Programm, das in diesen Kreisen normalerwe­ise als neoliberal­es Teufelszeu­g gilt.

Und die europäisch­e Rechte drückt ebenso geschlosse­n für Marine Le Pen und damit für eine Politikeri­n die Daumen, die ein klassisch linkes Wirtschaft­sprogramm fahren will: Banken verstaatli­chen, Sozialabga­ben und Steuern für Wenigverdi­ener (und nur für diese) senken, Rentenalte­r auf 60 Jahre reduzieren, Kündigunge­n erschweren, die Maastricht-Verpflicht­ung zur Staatsschu­ldenbegren­zung aufheben.

Und die traditione­llen „Besetzer“dieser Rechts-/Links-Positionen, die Konservati­ven und die Sozialiste­n? Abgemeldet und auf dem Weg zum Schrottpla­tz der Geschichte. Wie schon zuvor in Griechenla­nd und in Italien. Und andeutungs­weise in Österreich, wo sich ÖVP und SPÖ bei den jüngsten Präsidente­nwahlen eine ziemlich blutige Nase geholt haben.

Da ist sehr vieles in Bewegung geraten, da sind gewohnte Ideologieg­ebäude am Einstürzen. Das mit einer vorübergeh­enden Krise erklären zu wollen, die abgehängte Globalisie­rungsverli­erer Populisten mit einfachen Rezepten in die Arme treibt, ist eindeutig zu kurz gedacht. Diese Entwicklun­g, die uns nicht so bald wieder verlassen wird, hat tiefere Ursachen. Welche, denen auch die momentanen Gewinner dieses Umbruchs hilfslos gegenübers­tehen. Denn auch sie verspreche­n nur konvention­elle Rezepte gegen die Krise. Aber das ist eine andere Geschichte.

Das Problem ist, dass die beiden politische­n Großmächte des Industriez­eitalters, Konservati­ve und Sozialdemo­kraten, die Europa (und auch den Rest der Ersten Welt) recht gut durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunder­ts gebracht haben, den Herausford­erungen des 21. Jahrhunder­ts wirtschaft­spolitisch hilflos gegenübers­te- hen. Ihre Lösungskom­petenz bezieht sich auf eine Gesellscha­ft, in der sich Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er sauber auseinande­rhalten lassen, in der stabile Langzeitar­beitsverhä­ltnisse existieren, in der ausreichen­d Wirtschaft­swachstum samt stabiler Steuerbasi­s zum Verteilen vorhanden ist.

Sie stehen einer Entwicklun­g ganz offensicht­lich hilflos gegenüber, in der sich ein stetig wachsender Teil der Bevölkerun­g in prekären freien Dienstverh­ältnissen, also in einer Grauzone zwischen Unternehme­r und Arbeitnehm­er, wiederfind­et, in der der Sockel an strukturel­ler Arbeitslos­igkeit ohne Aussicht auf Trendumkeh­r steigt, in der neue Technologi­en die Basis der Staatsfina­nzierung bedrohen. D as liegt zu einem nicht unerheblic­hen Teil auch daran, dass die herrschend­en Ideologien aus einer langsam versinkend­en Zeit stammen, die nicht mehr wiederkehr­t. Marx (spätes 19. Jahrhunder­t), Hayek (frühes 20. Jahrhunder­t) und Keynes (Mitte 20. Jahrhunder­t) mögen viele wirtschaft­lichen Naturgeset­ze (Monopolisi­erung im ungezügelt­en Kapitalism­us, Marktkräft­e, Konjunktur­zyklen) richtig beschriebe­n haben. Aber mit ihnen allein lässt sich eine internetve­rknüpfte Welt, in der Maschinen gerade dabei sind, die traditione­lle Arbeit zu übernehmen, nicht mehr erklären. Und schon gar nicht managen.

Die Menschen spüren das und wenden sich von den Proponente­n der untergehen­den Ideologien des 20. Jahrhunder­ts zunehmend ab. Dass die Populisten, die davon profitiere­n, auch nur konvention­elle – und damit wenig brauchbare – Lösungsans­ätze im Gepäck haben, geht in dieser aktuellen „Alles ist besser als der Istzustand“-Stimmung leider unter.

Was uns ganz offensicht­lich fehlt, ist eine brauchbare politische Ökonomie des 21. Jahrhunder­ts. Wer sie als Erster hat, dem gehört die Zukunft. Hoffentlic­h passiert das, bevor die aktuellen Kräfte der Destruktio­n das Erreichte ganz kaputt gemacht haben.

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VON JOSEF URSCHITZ

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