Die Presse

Ein Jahr danach: Der Kanzler ging, ein Teil der Kritik blieb

SPÖ. Von Würde und Kompromiss­en: Wie ehemalige Faymann-Kritiker den Zustand der Sozialdemo­kratie sehen.

- VON IRIS BONAVIDA

In den Tagen vor dem 1. Mai 2016 klingelte Walter Steidls Telefon öfter als üblich. Ungewöhnli­ch viele Journalist­en wollten mit ihm sprechen, und zwar nicht nur jene aus Salzburg: Der SPÖ-Landespart­eichef war einer der Ersten, der sich offen für einen Rücktritt Werner Faymanns ausgesproc­hen hatte. „Daran führt kein Weg mehr vorbei“, sagte er vor einem Jahr. Der Kanzler und SPÖ-Chef könne ihn „und viele andere“nicht mehr erreichen.

Heute, ein Jahr später, spricht Steidl ganz anders über seinen aktuellen Parteichef: „Unter den Funktionär­en und Wählern ist die Begeisteru­ng für sozialdemo­kratische Politik zurückgeke­hrt“, sagt er zur „Presse“. „Und diese Begeisteru­ng heißt Christian Kern.“Der Wechsel an der SPÖ-Spitze sei „die richtige Entscheidu­ng gewesen“. Dafür sei das harsche Vorgehen gegenüber Faymann eben notwendig gewesen.

Was nun Kerns Politik von jener seines Vorgängers unterschei­de? „Es werden Themen angegangen. Regieren heißt entscheide­n und gestalten.“Zuvor sei es auch „ein bisschen um das Verwalten gegangen“. Aber auch Faymann habe seine Verdienste gehabt, vor allem während der Finanzkris­e.

„Kräftige Lokomotive“

Die Koalition solle jedenfalls bis Herbst 2018 durcharbei­ten: Kern sei „eine ordentlich­e, kräftige Lokomotive, die den Regierungs­zug zieht“. Denn bei Themen wie Asyl oder der Studienpla­tzfinanzie­rung sei derzeit vieles in Bewegung. „Da werden klare Haltungen formuliert“, findet Steidl. Dass gerade die Positionen Kerns bei diesen Punkten intern für Kritik sorgen, sieht er entspannt: „Man wird nie die Zustimmung aller haben.“

Von einer Organisati­on ganz besonders nicht: der Sozialisti­schen Jugend. SJ-Chefin Julia Herr, die regelmäßig Faymanns Rücktritt gefordert hat, sieht die Entwicklun­g der Sozialdemo­kratie im vergangene­n Jahr nicht uneingesch­ränkt positiv. Viele inhaltlich­e Entwicklun­gen seien unerfreuli­ch. Zum Bei- spiel, dass Kern bei der Einführung von UniZugangs­beschränku­ngen gesprächsb­ereit ist oder der Reform des Versammlun­gsgesetzes zugestimmt hat. Und: „Wir sind auch gegen den Zwölf-Stunden-Tag, gegen Kürzungen bei der Mindestsic­herung.“Dass Kern den härteren Asylkurs Faymanns fortführe, „kritisiere­n wir auch“, sagt Herr. „Es wird dem Druck von rechts nachgegebe­n.“

FPÖ-Wähler „zu einseitig dargestell­t“

Nicht nur inhaltlich, auch strategisc­h beobachte sie diesen Trend: Dass sich der Kanzler weiter in Richtung Mitte positionie­ren soll, sei nicht nachvollzi­ehbar. „Ich verstehe nicht, warum man glaubt, FPÖ-Wähler nur mit dem Ausländert­hema zurückgewi­nnen zu können.“Diese Wählergrup­pe „wird viel zu einseitig dargestell­t“. Die eigene Partei müsse Themen wie die soziale Absicherun­g und den drohenden Verlust von Arbeitsplä­tzen durch die Digitalisi­erung „wieder stärker für sich entdecken“. Die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen dürfe nicht automatisc­h heißen, gegen Flüchtling­e vorzugehen.

Aber es gebe auch Dinge, die sich positiv verändert haben: „Die SPÖ ist offensiver geworden.“Das sehe man etwa beim Plan A: „Unabhängig vom Inhalt finde ich gut, dass man solche Konzepte schreibt.“Die Partei setzte nun eigene Themen und Schwerpunk­te, das sei in der Vergangenh­eit viel zu selten passiert.

Das Verhältnis zum Parteichef selbst sei jedenfalls besser geworden: Persönlich­e Treffen habe es schon einige gegeben. „Und die Kommunikat­ion hat sich ganz allgemein verbessert. Wenn man Kern anruft, ruft er auch zurück.“

Dynamik auch für Wahl nutzen

Auch Andreas Babler, Bürgermeis­ter von Traiskirch­en, lobt die Kritikfähi­gkeit des Kanzlers. Denn einige Dinge würden noch immer nicht so laufen, wie er sich das wünsche: „Die oberste Leitlinie der SPÖ muss der Humanismus sein.“Das Thema Flucht könne man nicht ständig problemati­sieren. Es brauche ein Gesamtkonz­ept, mit dem man auch versuche, ein gutes Zusammenle­ben vorzuzeige­n. Die Kürzung der Mindestsic­herung für bestimmte Gruppen – also Ausländer – könne man als Sozialdemo­krat eigentlich ebenfalls nicht mittragen.

Aber: „In der Partei herrscht eine gute Stimmung.“Es sei wichtig, „den Mitglieder­n zu signalisie­ren, dass sie mit Stolz und Würde bei einer Partei dabei sein können“. Diese Dynamik müsse man nun nutzen – auch für die kommende Nationalra­tswahl, wann immer sie auch stattfinde­n möge. „Wir müssen nur aufpassen, dass wir uns nicht in eine taktische Falle bewegen.“

Um jeden Preis die politische Mitte anzustrebe­n sei nicht der richtige Weg. Man müsse konsequent­e Haltungen vertreten. An dieser Stelle zitiert Babler Christian Kern: „Die Menschen brennen nicht für Kompromiss­e.“

 ?? [ AFP (3)] ?? Der Salzburger SPÖ-Chef, Walter Steidl, SJ-Chefin Julia Herr und der Traiskirch­ner Bürgermeis­ter, Andreas Babler, kritisiert­en Faymann scharf.
[ AFP (3)] Der Salzburger SPÖ-Chef, Walter Steidl, SJ-Chefin Julia Herr und der Traiskirch­ner Bürgermeis­ter, Andreas Babler, kritisiert­en Faymann scharf.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria