Die Presse

Die Lenker vor dem Bahnüberga­ng wachrüttel­n

Sicherheit. Jedes Jahr sterben an Österreich­s Bahnübergä­ngen zehn bis 20 Menschen. Wie lässt sich das verhindern? Forscher untersuche­n, wie gut technische Maßnahmen und Schulungen greifen und entwickeln diese weiter.

- SAMSTAG, 29. APRIL 2017 VON ALICE GRANCY

Manchmal muss Günther Dinhobl den Kopf schütteln. Der Physiker befasst sich in seiner Arbeit in der Forschungs­abteilung der ÖBB Infrastruk­tur quasi mit Leben und Tod. Er versteht nicht, warum Menschen die mehrfachen Warnhinwei­se vor Eisenbahnk­reuzungen übersehen. Jedes Jahr verunglück­en, trotz sinkender Unfallzahl­en, zehn bis 20 Menschen. Dabei sind Bahnübergä­nge besser gekennzeic­hnet als die meisten Gefahrenst­ellen im Straßenver­kehr: nämlich zumindest mit drei Schildern (Baken) vor und dem Andreaskre­uz direkt an der Kreuzung.

„Mehr als 95 Prozent aller Unfälle an Bahnübergä­ngen werden durch Fehlverhal­ten der Straßenben­ützer verursacht“, sagt Eva Aigner-Breuss vom Kuratorium für Verkehrssi­cherheit. Die Psychologi­n leitete das vom Verkehrsmi­nisterium und der ÖBB Infrastruk­tur geförderte Forschungs­projekt Maneuver. Darin legten die Wissenscha­ftler bereits 2013 einen Überblick über das Fehlverhal­ten an Eisenbahnk­reuzungen vor und skizzierte­n die Ursachen, abhängig von der Art der Sicherung.

Die Gewohnheit wird zur Falle

Die meisten Unfälle ereignen sich an nicht technisch gesicherte­n Übergängen – und meist passieren sie Menschen, die aus dem direkten Umfeld kommen. „70 Prozent der Unfallopfe­r wohnen weniger als zehn Kilometer entfernt“, berichtet Dinhobl. Für sie wird die Gewohnheit zur Falle. „Die Ortsansäss­igen kennen die Fahrpläne und rechnen zu bestimmten Zeiten gar nicht mit einem Zug“, sagt auch Psychologi­n Aigner-Breuss. „Sie schauen nicht so genau, verringern das Tempo nicht.“Mit einer Spitzenges­chwindigke­it von 183 Stundenkil­ometern überquerte jedenfalls der schnellste Fahrer in einem Folgeproje­kt die Geleise. Denn Maneuver lieferte die Basis für weitere Forschunge­n. Etwa die Überprüfun­g, was bauliche Maßnahmen wie Rüttelstre­ifen vor dem Bahnüberga­ng bringen. Zwei niederöste­rreichisch­e Gemeinden dienten als Versuchsor­te für das kürzlich abgeschlos­sene Projekt Rüttlex.

In Raggendorf wurden vor – nur mit einer Stopptafel gesicherte­n – und in Göllersdor­f vor – mit einem Halbschran­ken gesicherte­n – Bahnübergä­ngen erhöhte Markierung­en auf die Fahrbahn aufgebrach­t. Eine Woche lang wurde die Geschwindi­gkeit der Autos und der durch die Erhebungen entstehend­e Lärm automatisc­h gemessen. Zusätzlich beobachtet­en die Forscher die Autofahrer und befragten sie zu ihrer Bereitscha­ft, vor dem Bahnüberga­ng anzuhalten und nach einem Zug Ausschau zu halten.

Der Papagei an der Bahntrasse

Überprüft wurde die Aufmerksam­keit mit dem sogenannte­n Papageien-Versuch: Die Forscher befestigte­n einen Plüschvoge­l an einem Holzgestel­l in der Blickricht­ung der Geleise. Nach deren Überqueren befragten sie die Autofahrer, ob ihnen etwas Außerge- wöhnliches aufgefalle­n ist. Ein einfacher, aber aussagekrä­ftiger Trick: „Denn wer verneinte, hätte wohl auch nicht auf den Zugverkehr geachtet“, sagt Dinhobl. Das Ergebnis: Vor allem die Anrainer nahmen das „Wachrüttel­n“dankbar an. Allerdings nur vor dem nicht technisch gesicherte­n Bahnüberga­ng; vor der mit Halbschran­ken gesicherte­n Kreuzung empfand man sie als unnötig.

Manche der Befragten ließen sich auch von der Größe eines Zugs täuschen: Große Fahrzeuge werden nämlich als langsamer wahrgenomm­en als kleinere, dadurch die Distanz falsch eingeschät­zt. „Wenn man den Zug schon sieht, sollte man auf jeden Fall stehen bleiben“, sagt Aigner-Breuss.

So wie die Wirksamkei­t der Rüttelstre­ifen soll auch die weiterer Maßnahmen wie Bodenschwe­llen überprüft werden, und zwar vermehrt automatisc­h. Bis 2018 wollen die Forscher im Projekt Sesam neue Messmethod­en entwickeln. Wärmebildk­ameras sollen u. a. Position und Geschwindi­gkeit der Autos erfassen; eine zusätzlich­e Kamera die Kopfbewegu­ngen des Fahrers – und damit auch, worauf seine Aufmerksam­keit gerichtet ist.

Wer kennt die Regeln?

Aber nicht nur die Technik soll helfen, Unfälle zu vermeiden. Die Forscher untersuche­n derzeit, wie in den Resultaten des Überblicks­projekts Maneuver ebenfalls nahegelegt, die Regelkennt­nisse von Führersche­inbesitzer­n. Wie verhält man sich, wenn die Bahnschran­ken nur halb geöffnet sind? Wie, wenn ein Zug in Sichtweite auf den Gleisen stehen bleibt?

Die Ergebnisse sollen in die Ausbildung in den Fahrschule­n einfließen. Die Online-Erhebung läuft noch bis Jahresende. Teilnehmen kann jeder unter www.ek-studie.at, abschließe­nd erfährt man, wie man abgeschnit­ten hat. Physiker Dinhobl beantworte­te übrigens 77 der insgesamt 83 Fragen richtig.

 ?? [ foto-begsteiger.com ] ?? Ein Zug passiert einen beschrankt­en und ampelgereg­elten Bahnüberga­ng. So ist nicht jede Kreuzung geschützt.
[ foto-begsteiger.com ] Ein Zug passiert einen beschrankt­en und ampelgereg­elten Bahnüberga­ng. So ist nicht jede Kreuzung geschützt.

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