Volkssprachen als politische Strategie
Bereits hundert Jahre vor Luther forderte Jan Hus in Böhmen eine umfassende Kirchenreform. Um die Ideen zu verbreiten, wurde immer weniger auf Latein formuliert.
Im Jahr 1410 eskalierte in Prag der Konflikt darüber, ob die Schriften des englischen Reformators John Wyclif an der Karls-Universität diskutiert werden sollten. Der Erzbischof von Prag ordnete die Verbrennung der Schriften an. Studenten und Lehrer protestierten auf der Straße. Die Unruhen provozierten König Wenzel IV. Er konfiszierte die Einnahmen aus den erzbischöflichen Besitztümern, bis die verbrannten Bücher den Magistern finanziell ersetzt wurden. Wer einen solchen Streit endgültig beilegen konnte, war angesichts mehrerer Päpste unklar. Im ausgehenden Mittel- alter bestand für die Organisation der Macht in Europa dringender Reformbedarf.
„An der Debatte über eine solche Reform beteiligten sich im Spätmittelalter zunehmend Personen, die nicht zur kirchlichen Hierarchie gehörten“, sagt so die Mediävistin Pavl´ına Rychterova.´ Sie agierten vielfach mit Unterstützung dieser Elite und überwiegend in eigenen Volkssprachen anstatt auf Latein. Diese öffneten die Theologie für Laien. Auch wenn sie zunächst nur als anspruchsvolle religiöse Bildung gedacht waren, verliehen sie neuen Konzepten der gesellschaftlichen Organisation Dynamik und Kraft. Die Erforschung der volkssprachlichen In- terpretation des theologischen Gedankengutes ist Gegenstand des vom European Research Council mit einer Million Euro finanzierten Forschungsprojektes, das Rychterova´ jetzt mit einem internationalen Team abgeschlossen hat. Sie arbeitet in Wien am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
Auslöser für Veränderungen
Für Rychterova´ bot die hussitische Reformbewegung ideales Material für ihre Forschung. Jan Hus und seine Gefährten begannen sehr früh, ihr Reformanliegen in Wort und Schrift in der Volkssprache zu formulieren, mit der klaren Ab- sicht, möglichst viele Anhänger zu gewinnen. Die Forscher untersuchten im europäischen und vor allem mitteleuropäischen Kontext, inwieweit volkssprachige Texte gesellschaftliche Veränderungen in Böhmen ausgelöst haben könnten. Lateinische und volkssprachliche Philologie, Hilfs- und Literaturwissenschaften und einzelne nationale Geschichtsschreibungen wurden einbezogen.
„Besonders herausfordernd ist es, lateinische Vorlagen der volkssprachlichen Schlüsseltexte zu identifizieren“, bemerkt Rychterova.´ „Nur das kann Auskunft darüber geben, wie die einzelnen Texte durch Europa gereist sind, wie sie übersetzt und neu interpretiert wurden und wie sie dann weiter in den Volkssprachen den Bildungshorizont ihrer Leser veränderten und damit letztendlich auch die Gesellschaft als solche.“
Einfache Zusammenhänge lassen sich aber nicht herstellen. „Das Material, das uns zur Verfügung steht, ist lückenhaft. Und es ist bei jedem einzelnen Text unterschiedlich, was er tatsächlich bewirkt hat. Entscheidend ist immer der Kontext. Die Übersetzungen gewähren uns oft direkten Einblick in die Denkweisen ihrer Autoren.“
Was erwartet Gott von mir?
Theologische Auseinandersetzungen in Volkssprachen gewannen im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts zunehmend für Bildungseliten an Bedeutung. „Komplexe theologische Themen konnten, wurden sie missverstanden, die gesellschaftliche Stabilität gefährden. Dessen waren sich die führenden Denker bewusst“, so Rychterova.´
Zugleich forderten Laien mehr theologische Bildung. Reiche Familien etwa, die auch ohne elitäre lateinische Bildung beträchtliche politische Macht besaßen, zeigten sich gegenüber ihren Seelsorgern immer anspruchsvoller. „Die Menschen wollten wissen, was Gott in einer immer komplexer werdenden Welt von ihnen verlangte, damit sie ihr Heil erlangten“, erklärt Rychterova.´ Auch dies habe zu einem Siegeszug der Volkssprachen in der Theologie geführt.