Stalin im Kontext des Weltgeschehens
Der Princeton-Historiker Stephen Kotkin arbeitet bereits seit 14 Jahren an einer auf drei Bände angelegten Biografie des sowjetischen Diktators. Es wird ein Mammutwerk, das möglichst alle Bereiche abdecken soll.
Was, noch eine Stalin-Biografie? Gibt es denn nicht schon genug Lebensbeschreibungen des sowjetischen Diktators? Hat nicht erst vor zwei Jahren der Moskauer Historiker Oleg Chlewnjuk ein weiteres grundlegendes Stalin-Porträt vorgelegt? „Ja, Chlewnjuks Biografie ist exzellent“, bestätigt auch Stephen Kotkin, Historiker an der USEliteuniversität Princeton, „denn er hat im heutigen Russland noch immer kursierende Mythen und Lügen über Stalin auf der Basis tiefgreifender Forschungen entlarvt. Chlewnjuk hat seinen russischen Lesern gezeigt, dass man Stalin nicht vom mörderischen Terror und den massenhaften Opfern der Kollektivierung weißwaschen kann und er auch niemals eine Art Genie war.“
Globales Phänomen
Kotkin aber hatte etwas anderes im Sinn, als er sich vor 14 Jahren daran machte, seinerseits Leben und Wirken dieses Machtmenschen zu be- und durchleuchten: „Ich sehe es als meine Aufgabe, Stalin in den Kontext des weltgeschichtlichen Geschehens zu stellen. Für eine westliche Leserschaft ist es nicht nötig, Stalin zu entlarven. Es gibt genügend Biografien, die sich eingehend mit seinem mörderischen Tun befassen“, erzählt Kotkin in der Bibliothek des Wiener Instituts von der Wissenschaft vom Menschen, wo der Princeton-Professor im April drei Vorträge zu geopolitischen Trends der Gegenwart hielt (siehe auch „Presse“vom 14. April).
„Russische Geschichte“, fährt er fort, „wird gern so geschrieben, als ob es keine Welt außerhalb Russlands gäbe. So wird auch Stalin gern in einen russischen/sowjetischen Kontext gestellt. Aber der Kommunismus war ein globales Phänomen, und Stalin selbst durchlebte die Epochen des Imperialismus, des Ersten und Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges. Es geht also nicht nur darum, Stalin und sein Handeln zu verstehen, sondern man muss auch Russlands Stellung in der Welt und die weltpolitischen Entwicklungen mitberücksichtigen.“
Vor 14 Jahren also begann Kotkin an seiner Stalin-Biografie zu arbeiten, konzipierte sie schließlich auf drei Bände. Band 1 erschien 2014 („Stalin: Paradoxes of Power, 1878–1928“) hat gut 1000 Seiten und beschreibt die Periode von den 1870er-Jahren bis 1928. In diesem ersten Band kommt Stalin auf den ersten 300 Seiten nur am Rande vor. Hineingeboren in eine arme Familie an der Peripherie des Zarenreichs war er in den ersten vier Lebensjahrzehnten eine ziemlich unbedeutende Figur. „Bedeutend aber waren Ereignisse und Entwicklungen in der Welt um Stalin herum, etwa die von Bismarck vorangetriebene Einigung Deutschlands. Und diese Dinge beleuchte ich“, erzählt Kotkin.
Weiße Flecken gibt es immer
Stalins Bedeutung aber wächst im Laufe der Zeit und dementsprechend nimmt er immer mehr Platz im ersten Band ein – bis er zu einer der führenden Figuren des jungen Sowjetstaats wird. Der Band erntete von Kotkins Kollegen teilweise hymnische Kritiken: „Niemals zuvor ist die Geschichte der sowjetischen Staatswerdung, in deren Zentrum Stalin stand, besser erzählt worden als in Kotkins Buch“, lobte etwa der führende deutsche Stalinismus-Forscher, Jörg Baberowski, „man versteht, dass der Staat Stalins aus dem Geist des Misstrauens, aus den Zwängen der Schwäche und der Macht der Gewalt kam“.
Band II wird im Oktober erscheinen, hat noch mehr Seiten als der erste Band und umfasst die Periode vom Beginn der Versklavung der Bauernschaft mittels Kollektivierung bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941. Am Schlussband, der den Zweiten Weltkrieg, den Kalten Krieg, Stalins Tod und die Folgen umfassen wird, arbeitet Kotkin noch. Umfang und Erscheinungstermin stehen noch nicht fest.
Der zweite Band spielt sich über weite Strecken in Stalins Büro im Kreml ab. Denn hier entschied sich so gut wie alles, was für die Sowjetunion und darüber hinaus von Bedeutung war: von Interventionen in den Spanischen Bürgerkrieg bis zu den Waffenlieferungen an Chiang Kai-shek; von den Listen zu exekutierender Genossen bis zu den Szenen, die aus sowjetischen Spielfilmen herausgeschnit- ten werden mussten; von der Höhe der Finanzmittel für die französischen Kommunisten bis zu Architekturvorgaben für neue Fabriken.
Kotkin verarbeitet viele erst im Laufe der vergangenen Jahre zugänglich gewordenen Dokumente, etwa aus Stalins Privatarchiv, Unterlagen des militärischen Nachrichtendienstes ebenso wie Berichte der Geheimpolizei. „Ich sah es als Herausforderung an, die neuen Erkenntnisse zu Kultur, Wirtschaft, Außen- und Innenpolitik zusammenzubringen“, sagt Kotkin.
Bleiben bei einem solchen biografischen Mammutwerk denn noch weiße Flecken zu Stalin? „Es gibt noch einige Mysterien, etwa Rätsel rund um seinen Tod. Und es wird immer neue Fragen zu ihm geben, weil künftige Historiker auf andere Weise an Stalin herangehen werden.“Eine deutsche Übersetzung des Opus Magnum von Stephen Kotkin ist bis jetzt nicht fixiert, „wir hoffen aber, dass es eine geben wird“, sagt er optimistisch.