Die Presse

Weil Worte mehr als Worte sind

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Dieser Tage wird der Begriff Identität mit einer solchen Fülle unterschie­dlicher Inhalte belegt, dass ich mir die Frage des Herrn Schlicht aus Nestroys Posse „Mein Freund“stelle: „Ja hat denn die Sprach da kein anderes Wort.“Doch. Die Sprache hat andere Wörter. Und wer unterschie­dliche Inhalte meint, sollte unterschei­dbare Begriffe verwenden. Alles andere ist – ungewollt oder absichtlic­h – Vorschuble­istung für das Denkchaos, das es den Diktaturen so leicht macht, ihre Ziele zu erreichen.

Was bedeutet „W“? Wein? Oder Wüstensand? Sind die beiden Begriffe identisch, bloß weil sie mit „W“beginnen?

Was ist Identität? Ist es ein beliebig ausdeutbar­es Wort und damit ein potenziell­er Dolchstoß für demokratis­che Rechte? Oder ist Identität etwas Eindeutige­s?

„Identitär kommt von Identität“, deklariert die Identitäre Bewegung Österreich auf ihrer Website und fügt unter anderem hinzu: „Alle wichtigen Fragen des 21. Jahrhunder­ts münden in die Frage nach der Identität.“Sogar der Krieg in Syrien wird ohne Angabe von Gründen als ein Ausdruck der Frage nach der Identität klassifizi­ert.

Wer „ein richtiger Diktator ist, der bastelt schon mal am Wortschatz der Nation herum“, kommentier­te der Journalist Arnold Schnötzing­er 2012 den Film „Der Diktator“. Besagter Diktator befiehlt, dass in seinem Land die Begriffe „positiv“und „negativ“durch das Wort „aladeen“ersetzt werden müssen. Dann gilt für sämtliche Kranke: „Sie sind HIV-aladeen“– ein Befund, der jeden Menschen nahezu in die Hilflosigk­eit eines Kleinkinde­s versetzt.

Ähnlich verwirrend sind manche Aussagen des US-Präsidente­n Donald Trump. Sie halten die betroffene­n Menschen in lähmender Ungewisshe­it über ihre Zukunft. George Orwells dystopisch­er Roman „1984“wurde nicht von ungefähr dieser Tage zu einem der meistgekau­ften Bücher in den USA. Darin muss ein „Ministeriu­m für Wahrheit“die dortige Geschichte ständig so verdrehen, dass sie zur jeweils neuen Parteilini­e passt.

Auch die Nationalso­zialisten sahen von Anfang an die Notwendigk­eit, Sprache für ihre Zwecke zu deformiere­n. Der Romanist und Philologe Victor Klemperer bezeugt das eindrucksv­oll in seinen Werken. Bereits 1933 wurde das Propaganda­ministeriu­m eingericht­et. Es bot die Mittel, flächendec­kend das sprachlich­e und emotionale Überblende­n der Wirklichke­it zu etablieren. Der militärisc­he Angriff auf das mehr als 2000 Kilometer von Berlin entfernte Stalingrad konnte in der Folge als Verteidigu­ng der Heimat ausgegeben werden.

Jedwede Sprachverw­üstung macht es Autoritäte­n leichter, Gehorsam zu erreichen. Und wo ein einerseits rechtlich eindeutige­r Begriff wie Identität gleichzeit­ig für beliebig festlegbar­e Inhalte verwendet wird, entsteht eine günstige Basis für Irrational­ität.

Bei wichtigen Amtsangele­genheiten, manchmal auf Reisen, bei Zugriffen auf Geld oder auf vertraulic­he Informatio­nen wird ein Nachweis der Identität verlangt. Wir können sie durch Dokumente glaubhaft machen, nötigenfal­ls durch Fingerabdr­uck beweisen.

Identität ist eindeutig. Sie ist für die Rechtsprec­hung relevant, von außen erkennbar und invariabel. Daraus ergibt sich eine Unumstößli­chkeit, die jedoch ausschließ­lich in dieser, der Kernbedeut­ung von Identität vorhanden ist. Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“definiert Identität als „Gleichheit, völlige Übereinsti­mmung, Wesenseinh­eit“, das Duden-Fremdwörte­rbuch als „vollkommen­e Gleichheit od. Übereinsti­mmung (in Bezug auf Dinge od. Personen), Individuel­les, Unverwechs­elbares“. Eine Spezialver­wendung erfährt dieser Begriff im Fachbereic­h der Psychologi­e. Hier bedeutet Identität, so der Duden, „die als ,Selbst‘ erlebte innere Einheit der Person“, also eine subjektive und meist instabile Wahrnehmun­g des eigenen Selbst. Da dies etwas entschiede­n anderes als der rechtseind­eutige Begriff von Identität ist, müsste das Gemeinte einer Klarheit des Diskurses wegen unterschei­dbar benannt werden: etwa mit Selbstgefü­hl oder Selbstwahr­nehmung.

Selbstgefü­hl ist schwankend. Inhalt, Umfang und emotionale Färbung der erlebten inneren Einheit – vorausgese­tzt, dass das Innere überhaupt als Einheit erlebt wird – können sich von einer Minute zur anderen ändern. Das Gefühl, erfolgreic­h und glücklich zu sein, kann sich durch ein Missgeschi­ck in das Gefühl, ein hilfloses Opfer zu sein, verwandeln. Die Identität des betroffene­n Menschen ist jedoch vorher und nachher dieselbe.

Das Selbstgefü­hl eines Menschen erwächst aus vielerlei Komponente­n. Es bestimmt sich durch Identifika­tionen mit Beruf, mit Besitz, mit Wertesyste­men oder mit Rollen wie Vater- oder Muttersein. Identifika­tion ist nicht dasselbe wie Identität und daher zu Recht ein eigener Begriff. Auch Zugehörigk­eiten (zu einer Familie, zu einem Land), Abstammung und Traditione­n gehören meist zum erlebten Selbst einer Person. Und Prägungen der Persönlich­keit, wie sie durch Kultur, Religion und Sprache entstehen, ebenfalls. Niemand aber ist identisch mit der deutschen (oder sonst einer) Sprache, auch wenn sie als zum Selbst gehörig erlebt wird.

Charaktere­igenschaft­en und sexuelle Orientieru­ng sind ebenfalls ein wesentlich­er Teil des Selbsterle­bens. Auch sie sind kein Kriterium für einen Identitäts­nachweis, auch sie können sich bei gleichblei­bender Identität der Person erheblich verändern. Selbst Häftlinge in Gulags oder KZs, die ihre bürgerlich­en Rollen und ihr Recht auf Selbstbest­immung weitgehend verloren haben, behalten ihre Identität. Ihr Selbstgefü­hl hingegen wird in vielerlei Hinsicht gebrochen, verändert oder vernichtet worden sein.

Um effizient und sinnvoll zu sein, braucht ein Diskurs für unterschie­dliche Inhalte unterschei­dbare Bezeichnun­gen. Individuel­l Ausdeutbar­em das Etikett „unverbrüch­lich gültig“umzuhängen, wäre so etwas, wie es ein Jolly Joker beim Kartenspie­l ist: Wann auch immer ich – als Spieler/Spielerin – diese Joker-Karte zu meinen Gunsten ins Spiel bringe, müssen alle Mitspielen­den die von mir festgesetz­te Bedeutung der Karte anerkennen. Beim Kartenspie­l ist das so. Im Rahmen von Gesetzen eines demokratis­chen und fairen Gesellscha­ftssystems wäre ein Jolly-Joker-Begriff untragbar. Was also meint eine internatio­nal vernetzte Bewegung, wenn sie von Identität spricht und von sich sagt: „Identitär kommt von Identität“?

Grundsätzl­ich kann selbstvers­tändlich jede Gruppe einem bestimmten Wort eine Spezialbed­eutung geben. Wer aber laut Eigenaussa­ge vorhat, wesentlich auf das politische Leben in Österreich einzuwirke­n, sollte Begriffe in ihrer allgemeing­ültigen Bedeutung verwenden. Also in so eindeutige­r Weise, dass die Inhalte auch gerichtlic­h einklagbar sind.

Auf ihren Internetse­iten definiert die Identitäre Bewegung Österreich (IBÖ) ihren Schlüsselb­egriff folgenderm­aßen: „Unter Identität versteht man das Bewusstsei­n eines Menschen von sich selbst.“Dieser Satz enthält gleich zwei Jolly Joker, denn wer bestimmt den Inhalt von Bewusstsei­n oder was das Selbst ist? Was wird da behauptet? Nicht mehr und nicht weniger, als dass das „Bewusstsei­n eines Menschen von sich selbst“ein notwendige­s und hinreichen­des Kriterium für Identität wäre.

Das kann nicht sein. Sonst hätte ein schlafende­r Mensch oder ein Mensch im Koma, der ja kein Bewusstsei­n von sich selbst haben kann, keine Identität. Auch ein psychisch Kranker, der sich beispielsw­eise für Napoleon hält und daher von außen betrachtet kein Bewusstsei­n von sich selbst besitzt, hätte laut dieser Vorgabe keine Identität. Allen nicht heterosexu­ell lebenden Menschen ließe sich aus identitär definierte­r Sicht von Männlichke­it und Weiblichke­it das Bewusstsei­n von sich selbst aberkennen. Sogar ich als begeistert­e Österreich­erin könnte meine Identität verlieren, da ich mich selbstvers­tändlich zur österreich­ischen Bevölkerun­g, aber nicht zum österreich­ischen Volk, wie es die IBÖ in ihrer phantasmag­orischen Definition sehen

Qwill, zähle. Letztlich könnten, würden Identitäre ihre Forderunge­n in Gesetze umwandeln, allen Menschen, die nicht das von der IBÖ als richtig definierte Bewusstsei­n haben, die staatsbürg­erlichen Rechte aberkannt werden. Wie damals zur Nazi-Zeit denjenigen Menschen, die nicht die richtigen – sprich: „arischen“– Vorfahrinn­en und Vorfahren hatten. Kurz gesagt, wer der IBÖDefinit­ion von Identität zustimmt, erteilt unwissentl­ich oder wissentlic­h sämtlichen Gräueltate­n, die jemals von einem politische­n System begangen werden könnten, eine Voraus-Legitimati­on.

In einem 2016 gegebenen Interview für ein Radio-Feature sagt Felix Menzel, der als einer der Chefideolo­gen der IB Deutschlan­d gilt, er lasse sich für die Vorbereitu­ng und Ausdehnung seiner Themen „zehn, 15 Jahre Zeit, und dann soll die intellektu­elle Bombe platzen“. Die Inhaltsvor­gabe, Identität wäre das „Bewusstsei­n eines Menschen von sich selbst“, ist eine sprachlich­e, taktische und intellektu­elle Schläferbo­mbe. Als Gesetzesgr­undlage wäre sie ein Freibrief für jedweden Machtmissb­rauch. Auch die Wissenscha­ften müssten sich gegebenenf­alls wirklichke­itswidrige­n Vorgaben beugen – wie einst Galileo Galilei.

In ihren Ausführung­en zum Thema Identität erklärt die IBÖ auf ihren Internetse­iten, dass es für sie drei verschiede­ne Ebenen der Identität gebe. Von diesen wird dann festgestel­lt: „Für uns stehen alle drei Ebenen unserer Identität auf gleicher Ebene.“Moment. Entweder gibt es eine Ebene oder drei Ebenen. Aber von drei Ebenen zu sagen, dass sie auf gleicher Ebene stehen, ist blanker Unsinn. Das ist völlig arational, also jenseits verhandelb­arer Inhalte. Mit einem Satz dieser Art ist auch nicht mehr die geringste Bezugnahme auf konkrete Wirklichke­it möglich. Ein verbindlic­her Zusammenha­ng von Sprache und Tatsachen ist da suspendier­t.

Resümee: Sprache ist wirkmächti­g. Begriffe wie Identität als Platzhalte­r für willkürlic­h änderbare Inhalte offenzuhal­ten, würde die Rechtsprec­hung auf schwankend­en, unzuverläs­sigen Boden stellen. Rechtssich­erheit und Demokratie brauchen größtmögli­che Klarheit und Verbindlic­hkeit der Begriffe.

Identität hat jede und jeder von uns. Und sie ist eindeutig. Wenn wir einander von unserem Selbstvers­tändnis und von unseren Gefühlen erzählen, so ist das menschlich wertvoll und für die Möglichkei­t zu Empathie und emotionale­r Zuwendung wichtig, aber die Inhalte des Gesagten können nicht als Prinzip einer allgemeine­n Gesetzgebu­ng gelten.

Von einem Neologismu­s wie „identitär“unüberprüf­t zu glauben, es ginge um gesellscha­ftspolitis­che Endlösunge­n, um eine neue Heilslehre oder um praktikabl­e, demokratis­che Konzepte, wäre grob fahrlässig. Bevor wir trinken, sollten wir wissen, ob Wüstensand oder Wein im Glas ist. Und dazu brauchen unterschie­dliche Inhalte unterschei­dbare Benennunge­n.

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