Wer hat das Feuer gelegt?
„Telex aus Kuba“: der dichte Roman der US-amerikanischen Autorin Rachel Kushner verarbeitet Familiengeschichte zu einem kaleidoskophaften Panorama des vorrevolutionären Kuba. Und dann kam Fidel.
Feuer“, so Rachel Kushner in einem Interview, „kann eine destruktive oder eine reinigende Wandlung auslösen. Man weiß es nur nicht, wenn man das Zündholz reibt.“Das Feuer, das im einleitenden Kapitel ihres Romans in der ostkubanischen Provinz Oriente in den Zuckerrohrfeldern der United Fruit Company ausbricht, leitet für K. C. Stites, Sohn des lokalen United-Bosses, beides ein: Destruktion seiner luxurierten Lebensumstände und Wandlung zu einem kritischen Betrachter der Ausbeutungsverhältnisse, auf denen das Luxusleben der US-Zuckerrohrund Nickelminenmanager basiert.
Im Jänner 1958 ist praktisch das ganze anbaufähige Land Orientes, 133.500 Hektar, im Besitz der United Fruit Company – bis auf das Landgut von Don A´ngel Castro. Seine Söhne, Fidel und Rau´l, sind mit ihrer Rebellentruppe zu dieser Zeit schon ein Jahr in der angrenzenden Sierra Maestra. Und der ältere Sohn des Plantagenmanagers Malcolm Stites, Delmore, ist bei Ausbruch des Feuers schon seit Wochen unter den Fittichen der Castros, denen er sich freiwillig angeschlossen hat. Offensichtlich wurde das Feuer von Rebellen gelegt und das Bewässerungssystem mit dem Know-how Delmore Stites’ lahmgelegt. Das ist die bittere Erkenntnis, der sich die Familie Stites nun stellen muss. Die Strategie von Malcolm Stites, sowohl mit dem Putschisten Batista zu kooperieren und diesem über seine Kontakte zur US-Regierung geheime Waffen- und Flugzeuglieferungen zukommen zu lassen als auch über Mittelsmänner Kontakte zu Fidel und Rau´l Castro aufzubauen und damit die United-FruitPlantagen von Kriegshandlungen auszusparen, ist damit obsolet.
Bereits auf den ersten Seiten gelingt es Rachel Kushner, aus der Sicht ihrer pubertierenden Romanfigur K. C. Stites ein dichtes Panorama der kubanischen Klassenverhältnisse und des ihnen zugrunde liegenden spanischen Kolonialerbes samt nachfolgenden US-imperialistischen Ausbeutungsstrukturen zu entwerfen. Der in industriellem Maßstab betriebene Zuckerrohranbau, dessen Ernte auf der Arbeitskraft von Zigtausenden schlecht entlohnten, hauptsächlich aus Haiti hergeholten schwarzen Arbeitskräften basiert, die 18 Stunden pro Tag in sengender Hitze das Rohr mit der Machete schneiden. Kubaner, die als Hausangestellte die Feldarbeiter verachten. Chinesen, die fast nackt die noch größere Hitze in den Zuckermühlen ertragen müssen. Parallel dazu die hochrangigen Angestellten der United Fruit samt amerikanischen und einheimischen Mafiabossen und Armeeoffizieren in ihren Nobelvillen, Strandklubs, Straßenkreuzern und Edelbordellen. Dazu die spanischstämmige kubanische Oberschicht, die ihrerseits die „Gringos“als Misch- linge verachtet. Bei aller vorgeschobener Liberalität wird auch bei den Stites streng auf Klassenabstufungen geachtet. Die Kinder der Aufseher dienen zwar als Spielgefährten für K. C., aber auch wenn sie US-Bürger sind, muss er sich nach jedem Kontakt in der Garage ausziehen und abspritzen lassen, damit „das Unterschichtdasein nicht ins Haus getragen wird“.
Das fiktionale Personal in Kushners Kuba-Roman basiert auf realen Lebensläufen. Kushners Mutter verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in der amerikanischen Kolonie in Oriente. Im Nachlass ihrer Großeltern fanden sich jede Menge Fotos, Durchschläge von aus Kuba geschriebenen Briefen, Aufzeichnungen, Geschäftspapiere, Dokumente, Party- und Botschaftseinladungen – ein reichhaltiges Archiv der Lebensumstände von Amerikanern, die Kubas Zuckerrohrund Nickelindustrie managten und kontrollierten und als importierter Teil der Oberschicht ein politischer Faktor waren. Ihr Roman selbst, so Kushner, sei aber pure Fiktion: „Wäre das Buch nur die simple Fiktionalisierung meiner Familiengeschichte, wäre das eine ziemlich langweilige Angelegenheit. Erzählende Literatur muss Vergan-
Qgenheit organisch und eigenbegrifflich neu konfigurieren, in einer Logik, die nicht faktisch, sondern ästhetisch ist.“
K. C. Stites ist die einzige icherzählende Figur im Roman, alle anderen stellen sich in der dritten Person dar. Everly Lederer ist neben K. C. die zweite erzählende Kinderbeziehungsweise Teenagerfigur, sie nimmt das Leben in der US-Kolonie durch Brillen „dick wie Colaglas“in Augenschein. Wir lernen die Tochter eines Nickelminenmanagers, ihre beiden Schwestern und ihre Eltern bereits auf der Schiffsüberfahrt von Florida kennen. In Everlys entrückter Fantasie ist Kuba die reale Variante von Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“: Piratenland von überschäumender Naturschönheit und melancholischer Verträumtheit. K. C. und Everly wären herkunfts- und klassenmäßig füreinander bestimmt, aber die gesellschaftlichen Umbrüche werden das nicht mehr zulassen. Während K. C.s Weltsicht immer realistischer wird, verfällt Everly fortlaufend einer irrealen Romantik, die ernüchternde Einblicke allerdings nicht ausschließt.
Neben Oriente ist Havanna der zweite Schauplatz des Romans. Dort kreuzen sich die Schicksale mehrerer Protagonisten im Cabaret Tokio. Die Zazou-Tänzerin Rachel K aus dem dortigen Pam-Pam-Salon ist die Mätresse des Diktators Batista, Geliebte von Malcolm Stites, Kurier der Castros und Traumfrau von Christian de la Mazi`ere. Dieser ist in Kushners Buch ein schurkischer Waffenschieber, der mit Batista und mit Castro kollaboriert, daneben auch Geschäfte in Haiti und der Dominikanischen Republik betreibt. Der historische Mazi`ere war Anhänger Marschall Petains,´ Mitglied der WaffenSS und ist in Marcel Ophüls Dokumentarfilm „Le chagrin et la pitie“´ porträtiert.
Rachel Kushners eigene Familie hat Kuba bereits lang vor der Revolution verlassen. Kushners fiktive Familien, die Stites, Lederers und andere, werden über Guantanamo´ nach Miami evakuiert, kurz bevor Castro und seine Männer aus der Sierra Maestra herabsteigen und die Plantagen und Minen übernehmen.
Am 24. Dezember 1958 besucht Fidel Castro gemeinsam mit seiner Gefährtin, Celia Sanchez,´ seine Mutter in Biran.´ Es ist das erste Wiedersehen seit seiner Flucht nach Mexiko vor drei Jahren. Danach zieht er im Triumphzug in Richtung Havanna, wo er am 1. Jänner 1959 eintrifft. Sein Bruder Rau´l bleibt als Militärchef in Oriente zurück, um die Reste von Batistas Armee in Schach zu halten. Delmore Stites ist in seinem Stab und bekommt von Rau´l Castro den Befehl, exekutierte Angehörige der Batista-Armee mit einem Bulldozer in ein Massengrab zu schieben. Danach macht auch Del sich in Richtung Miami aus dem Staub. Als nach den Exekutionen in Santiago internationale Kritiker – womit wir wieder auf der Ebene des Faktischen wären – von einem Blutbad sprechen, wischt Rau´l Castro alle Einwände vom Tisch: „Warum so viel Aufhebens um den Feind? Schließlich ist da immer ein Priester, der die Beichte abnimmt.“