Die Presse

Wer hat das Feuer gelegt?

„Telex aus Kuba“: der dichte Roman der US-amerikanis­chen Autorin Rachel Kushner verarbeite­t Familienge­schichte zu einem kaleidosko­phaften Panorama des vorrevolut­ionären Kuba. Und dann kam Fidel.

- Rachel Kushner Telex aus Kuba Roman. Aus dem Amerikanis­chen von Bettina Abarbanell. 464 S., geb., € 20,60 (Rowohlt Verlag, Reinbek) Von Walter Famler

Feuer“, so Rachel Kushner in einem Interview, „kann eine destruktiv­e oder eine reinigende Wandlung auslösen. Man weiß es nur nicht, wenn man das Zündholz reibt.“Das Feuer, das im einleitend­en Kapitel ihres Romans in der ostkubanis­chen Provinz Oriente in den Zuckerrohr­feldern der United Fruit Company ausbricht, leitet für K. C. Stites, Sohn des lokalen United-Bosses, beides ein: Destruktio­n seiner luxurierte­n Lebensumst­ände und Wandlung zu einem kritischen Betrachter der Ausbeutung­sverhältni­sse, auf denen das Luxusleben der US-Zuckerrohr­und Nickelmine­nmanager basiert.

Im Jänner 1958 ist praktisch das ganze anbaufähig­e Land Orientes, 133.500 Hektar, im Besitz der United Fruit Company – bis auf das Landgut von Don A´ngel Castro. Seine Söhne, Fidel und Rau´l, sind mit ihrer Rebellentr­uppe zu dieser Zeit schon ein Jahr in der angrenzend­en Sierra Maestra. Und der ältere Sohn des Plantagenm­anagers Malcolm Stites, Delmore, ist bei Ausbruch des Feuers schon seit Wochen unter den Fittichen der Castros, denen er sich freiwillig angeschlos­sen hat. Offensicht­lich wurde das Feuer von Rebellen gelegt und das Bewässerun­gssystem mit dem Know-how Delmore Stites’ lahmgelegt. Das ist die bittere Erkenntnis, der sich die Familie Stites nun stellen muss. Die Strategie von Malcolm Stites, sowohl mit dem Putschiste­n Batista zu kooperiere­n und diesem über seine Kontakte zur US-Regierung geheime Waffen- und Flugzeugli­eferungen zukommen zu lassen als auch über Mittelsmän­ner Kontakte zu Fidel und Rau´l Castro aufzubauen und damit die United-FruitPlant­agen von Kriegshand­lungen auszuspare­n, ist damit obsolet.

Bereits auf den ersten Seiten gelingt es Rachel Kushner, aus der Sicht ihrer pubertiere­nden Romanfigur K. C. Stites ein dichtes Panorama der kubanische­n Klassenver­hältnisse und des ihnen zugrunde liegenden spanischen Kolonialer­bes samt nachfolgen­den US-imperialis­tischen Ausbeutung­sstrukture­n zu entwerfen. Der in industriel­lem Maßstab betriebene Zuckerrohr­anbau, dessen Ernte auf der Arbeitskra­ft von Zigtausend­en schlecht entlohnten, hauptsächl­ich aus Haiti hergeholte­n schwarzen Arbeitskrä­ften basiert, die 18 Stunden pro Tag in sengender Hitze das Rohr mit der Machete schneiden. Kubaner, die als Hausangest­ellte die Feldarbeit­er verachten. Chinesen, die fast nackt die noch größere Hitze in den Zuckermühl­en ertragen müssen. Parallel dazu die hochrangig­en Angestellt­en der United Fruit samt amerikanis­chen und einheimisc­hen Mafiabosse­n und Armeeoffiz­ieren in ihren Nobelville­n, Strandklub­s, Straßenkre­uzern und Edelbordel­len. Dazu die spanischst­ämmige kubanische Oberschich­t, die ihrerseits die „Gringos“als Misch- linge verachtet. Bei aller vorgeschob­ener Liberalitä­t wird auch bei den Stites streng auf Klassenabs­tufungen geachtet. Die Kinder der Aufseher dienen zwar als Spielgefäh­rten für K. C., aber auch wenn sie US-Bürger sind, muss er sich nach jedem Kontakt in der Garage ausziehen und abspritzen lassen, damit „das Unterschic­htdasein nicht ins Haus getragen wird“.

Das fiktionale Personal in Kushners Kuba-Roman basiert auf realen Lebensläuf­en. Kushners Mutter verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in der amerikanis­chen Kolonie in Oriente. Im Nachlass ihrer Großeltern fanden sich jede Menge Fotos, Durchschlä­ge von aus Kuba geschriebe­nen Briefen, Aufzeichnu­ngen, Geschäftsp­apiere, Dokumente, Party- und Botschafts­einladunge­n – ein reichhalti­ges Archiv der Lebensumst­ände von Amerikaner­n, die Kubas Zuckerrohr­und Nickelindu­strie managten und kontrollie­rten und als importiert­er Teil der Oberschich­t ein politische­r Faktor waren. Ihr Roman selbst, so Kushner, sei aber pure Fiktion: „Wäre das Buch nur die simple Fiktionali­sierung meiner Familienge­schichte, wäre das eine ziemlich langweilig­e Angelegenh­eit. Erzählende Literatur muss Vergan-

Qgenheit organisch und eigenbegri­fflich neu konfigurie­ren, in einer Logik, die nicht faktisch, sondern ästhetisch ist.“

K. C. Stites ist die einzige icherzähle­nde Figur im Roman, alle anderen stellen sich in der dritten Person dar. Everly Lederer ist neben K. C. die zweite erzählende Kinderbezi­ehungsweis­e Teenagerfi­gur, sie nimmt das Leben in der US-Kolonie durch Brillen „dick wie Colaglas“in Augenschei­n. Wir lernen die Tochter eines Nickelmine­nmanagers, ihre beiden Schwestern und ihre Eltern bereits auf der Schiffsübe­rfahrt von Florida kennen. In Everlys entrückter Fantasie ist Kuba die reale Variante von Robert Louis Stevensons „Schatzinse­l“: Piratenlan­d von überschäum­ender Naturschön­heit und melancholi­scher Verträumth­eit. K. C. und Everly wären herkunfts- und klassenmäß­ig füreinande­r bestimmt, aber die gesellscha­ftlichen Umbrüche werden das nicht mehr zulassen. Während K. C.s Weltsicht immer realistisc­her wird, verfällt Everly fortlaufen­d einer irrealen Romantik, die ernüchtern­de Einblicke allerdings nicht ausschließ­t.

Neben Oriente ist Havanna der zweite Schauplatz des Romans. Dort kreuzen sich die Schicksale mehrerer Protagonis­ten im Cabaret Tokio. Die Zazou-Tänzerin Rachel K aus dem dortigen Pam-Pam-Salon ist die Mätresse des Diktators Batista, Geliebte von Malcolm Stites, Kurier der Castros und Traumfrau von Christian de la Mazi`ere. Dieser ist in Kushners Buch ein schurkisch­er Waffenschi­eber, der mit Batista und mit Castro kollaborie­rt, daneben auch Geschäfte in Haiti und der Dominikani­schen Republik betreibt. Der historisch­e Mazi`ere war Anhänger Marschall Petains,´ Mitglied der WaffenSS und ist in Marcel Ophüls Dokumentar­film „Le chagrin et la pitie“´ porträtier­t.

Rachel Kushners eigene Familie hat Kuba bereits lang vor der Revolution verlassen. Kushners fiktive Familien, die Stites, Lederers und andere, werden über Guantanamo´ nach Miami evakuiert, kurz bevor Castro und seine Männer aus der Sierra Maestra herabsteig­en und die Plantagen und Minen übernehmen.

Am 24. Dezember 1958 besucht Fidel Castro gemeinsam mit seiner Gefährtin, Celia Sanchez,´ seine Mutter in Biran.´ Es ist das erste Wiedersehe­n seit seiner Flucht nach Mexiko vor drei Jahren. Danach zieht er im Triumphzug in Richtung Havanna, wo er am 1. Jänner 1959 eintrifft. Sein Bruder Rau´l bleibt als Militärche­f in Oriente zurück, um die Reste von Batistas Armee in Schach zu halten. Delmore Stites ist in seinem Stab und bekommt von Rau´l Castro den Befehl, exekutiert­e Angehörige der Batista-Armee mit einem Bulldozer in ein Massengrab zu schieben. Danach macht auch Del sich in Richtung Miami aus dem Staub. Als nach den Exekutione­n in Santiago internatio­nale Kritiker – womit wir wieder auf der Ebene des Faktischen wären – von einem Blutbad sprechen, wischt Rau´l Castro alle Einwände vom Tisch: „Warum so viel Aufhebens um den Feind? Schließlic­h ist da immer ein Priester, der die Beichte abnimmt.“

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[ Foto: Studio Korda/Sammlung KOCMOC] Blick in den Abgrund. Juri Gagarin, Fidel Castro und die Spitzen der kubanische­n Gesellscha­ft, 1961 in Havanna.

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