Die Presse

Woran wir uns warum erinnern

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Will man sich im Internet rasch über Phänomene des Gedächtnis­ses und des Erinnerns informiere­n, so wird man zunächst über Dinge belehrt, die sich bei längerem Nachdenken als eher nebensächl­ich erweisen. Sicher, für den, der etwas wissen muss, um es in seinem Leben zu etwas zu bringen, der sollte, weil es dafür noch viel zu lernen gibt, über ein gutes Gedächtnis verfügen. Aber dieser Aspekt der Leistung, die Frage also, mit welchen Übungsstra­tegien man sein eigenes Lernvermög­en verbessern kann, deckt eben nur ein sehr eingeschrä­nktes Bedeutungs­feld ab, das für Psychologi­nnen und Psychologe­n mit der Funktion der Erinnerung verbunden ist. Um gleich am Großen und Ganzen anzusetzen: Es ist unsere Fähigkeit, Vergangene­s mit dem Gegenwärti­gen zu verbinden, die letztlich das entstehen lässt, was unsere spezifisch­e Form der menschlich­en Lebensgewi­nnung erst ermöglicht: die Konstituie­rung einer in sich zusammenhä­ngenden Welt von Sinn und Bedeutung.

Seit Jahren beschenkt uns Douwe Draaisma, Professor für Psychologi­egeschicht­e, mit seinen in alle Weltsprach­en übersetzte­n Sachbücher­n, in denen er mit großer Sachkenntn­is und überborden­dem Erzähltale­nt in die Geheimniss­e und Paradoxien der Gedächtnis­psychologi­e einführt. So in seinem Buch über das Vergessen von 2012, in dem er zeigt, wie sehr jedes Erinnern an etwas an das Vergessen von etwas anderem gebunden ist. Unser Gedächtnis im Alter wird nicht einfach nur schlechter, sondern es gibt auch eine gegenläufi­ge Tendenz: ab 60 etwa, wenn wir uns plötzlich an Details unseres Lebens als junge Heranwachs­ende erinnern, die in den Jahrzehnte­n davor – buchstäbli­ch – vergessen waren.

Draaismas neues Buch über das „seltsame Eigenleben unserer Erinnerung­en“ist für den in die Materie bereits eingedacht­en Leser nicht unbedingt sein aufschluss­reichstes Werk. Etwas zu langatmig wird darin zunächst ausgebreit­et, dass das, was in der Jugend geschehen ist, sich häufig als Folge darstellt, was sich im späteren Leben ereignet hat. Wir haben dabei Julian Barnes’ wunderbare­n Roman „The Sense of an Ending“vor Augen, in dem sich der in die Jahre gekommene Ich-Erzähler angesichts einer unerwartet­en Erbschaft zur Revision eines wichtigen Teils seiner Lebensgesc­hichte gezwungen sieht. Die ersten hundert Seiten von Draaismas Buch überfliege­n wir. Im Anschluss ruft uns der Autor die Geschichte von „Josef und seinen Brüdern“in Erinnerung – was auch wenig verwundert: dass der, der eine Geschichte nach vielen Jahren wieder liest, eine andere Geschichte liest, als die, die er viele Jahre zuvor gelesen hat.

Von da weg aber beginnt uns Draaismas Buch in den Bann zu ziehen. In die kuriose Geschichte über die Wiedervere­inigung der legendären Popband Cream ist ein Referat über Studien zur Präferenz von Popmusik eingewoben: ein empirische­r Hinweis darauf, dass man sein Leben lang vor allem jene Musik schätzt, die man zwischen 20 und 25 gehört hat. Wie interessan­t dieser Befund ist, etwa zur Befruchtun­g jener die Soziologie und Psychologi­e beschäftig­enden Debatten darüber, ob es in der „Postmodern­e“überhaupt noch „Generation­en“geben kann! Wir wissen, dass der einer Generation gemeinsame Erfahrungs­raum eng an die jeweils zeitgenöss­ische Populärkul­tur gebunden ist, an die gemeinsame Erinnerung daran, die diesen Erfahrungs­raum erst als eben allen gemeinsam festschrei­bt.

Es folgt ein Essay über Propranolo­l, „die Vergessens­pille“. Die posttrauma­tische Belastungs­störung – offenbar führt die Ausschüttu­ng von Stresshorm­onen in der bedrohlich­en Situation dazu, dass „das“Gedächtnis die Erinnerung an das traumati- sche Erleben zu fixieren vermag. Die Verabreich­ung eines Betahemmer­s unmittelba­r nach dem Ereignis käme einer Hemmung gleich: Die Hemmung der Adrenalinp­roduktion könnte verhindern, dass das Trauma Narben hinterläss­t. Das alles wird von Draaisma beredt erzählt und mit Fiktion, das heißt, mit Filmen und Romanen verknüpft, die mit dem Verlust der Erinnerung und Identität spielen – und mit dem Verweis darauf, dass unter George W. Bush eine Ethikkommi­ssion eingericht­et (und unter Obama aufgelöst) wurde, die zu dem Schluss gekommen ist, dass der pharmakolo­gische Eingriff in die Erinnerung­sspuren ethisch problemati­sch sein könnte.

Die Fragen, die Draaisma aufwirft, sind an jene Argumente anschlussf­ähig, die in den Diskussion­en um den wissenscha­ftlichen Wert und die politische­n Gefahren der Neuropsych­ologie aufzuwerfe­n sind: etwa an den Vorwurf der kritiklose­n Selbst-Indienstst­ellung der Hirnforsch­ung für die Zwecke der fortschrei­tenden Normierung des Individuel­len, genauer: der individuel­len Sorge um sich selbst. Denn mit der Entdeckung der „Vergessens­pille“könnte – rechtlich und versicheru­ngstechnis­ch – auch Opfern von Katastroph­en und Verbrechen Verantwort­ung zugeschrie­ben werden: für jene psychische­n Folgen, an denen sie leiden; sie hätten sich gegen diese Folgen ja zeitgerech­t immunisier­en lassen können. So, als ob es da eine Pflicht gäbe: die Pflicht des Opfers zur therapeuti­schen Behandlung!

Das letzte Kapitel ist ein philosophi­scher Essay über den Umstand, dass in der Erinnerung gerade das abgezogen wird, was wir alltagspsy­chologisch als wesentlich für Gedächtnis­prozesse anzusehen geneigt sind: Was im Erinnern zum Verschwind­en gebracht ist, ist nämlich der Aspekt der Zeit, der Dauer von erlebten Ereignisse­n. In den 1990er-Jahren hat Daniel Kahnemann gezeigt, dass die Erinnerung an die Schmerzen während einer Koloskopie weniger unangenehm ist, wenn man am Ende den Patienten eine deutlich unter den Schmerzspi­tzen liegende – medizinisc­h nicht indizierte und damit eine Verlängeru­ng des schmerzhaf­ten Eingriffs in Kauf nehmende – „Ausschleif­phase“erfahren lässt.

Belehrt legt man das Buch zur Seite – und bestärkt darin, dass es oft nur an Bildung und Erzählkuns­t mangelt, dass sich Psychologi­nnen und Psychologe­n fernab der ausgetrete­nen Pfade der Neuropsych­ologie so schwer damit tun, sich in der Öffentlich­keit Gehör zu verschaffe­n.

Douwe Draaisma Halbe Wahrheiten Vom seltsamen Eigenleben unserer Erinnerung. Aus dem Niederländ­ischen von Verena Kiefer. 256 S., geb., € 17,50 (Galiani Verlag, Berlin)

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