Peter Rosei: Utopien
Fortsetzung von Seite I
Was immer die Naturwissenschaften uns vorstellen werden, die passende Philosophie dazu wird sich schon finden.
unausdenkbar ist – werden wir uns früher oder später Ergebnissen gegenübersehen, die uns zwingen werden, was human ist, neu zu denken.
Ein letztes Wort zu den Technikoptimisten: Es ist ja klar, dass keineswegs die gesamte Menschheit auf einen Schlag übersiedeln könnte. Der Kollateralschaden dürfte im Fall des Falles groß sein, Szenen wie beim Untergang der „Titanic“sind wahrscheinlich.
Utopien sollten auf eine möglichst große Zahl abstellen, idealiter auf alle. Utopien sollten für die Menschen erdacht werden und nicht umgekehrt die Menschen für die Utopie. – Wozu sind Utopien gut? Ohne Ziele, ohne Hoffnung kein Menschsein.
Wenden wir uns einer zweiten, einer ganz anders gearteten und orientierten Form einer möglichen Utopie zu. Auch sie geht von der Knappheit beziehungsweise Endlichkeit der natürlichen Ressourcen aus, steht der Technik als einem Helfer der Menschheit grundsätzlich positiv gegenüber, setzt aber nicht auf deren universale Lösungskompetenz: Kann aber die Technik die bestehenden Verhältnisse nicht unendlich optimieren, bleibt als Schluss nur die grundlegende Veränderung der Verhältnisse.
Was die Vertreter dieser Denkschule vorab einmal zu klären haben, ist ihr Verhältnis zur sogenannten digitalen Revolution: Meinen nämlich die einen, diese Revolution würde, wie alle großen technischen Umbrüche, letzten Endes zum Wohl der Menschheit ausschlagen – Stichworte: Erhöhung der Produktivität einerseits, Verkürzung der Arbeitszeit andererseits –, sind die anderen der Überzeugung: dass erstens Produktivität nicht unendlich steigerbar ist und zuletzt gegen null tendiert; es zweitens eine Horrorvorstellung ist, jeder Wissenserwerb müsse an die Erfordernisse des Marktes angepasst werden und somit in eine moderate Form von Dressur münden; drittens die Vorstellung von der unendlichen Erziehbarkeit des Menschen an den natürlichen Gegebenheiten arg vorbeiziele; das durch Computer und Roboter drastisch verminderte Angebot an Arbeit letztlich zu Massenarbeitslosigkeit führen würde beziehungsweise dazu, dass Arbeit nur über Nepotismus und verwandte Strategien zu haben sein wird, ein Vorgang, der das andererseits angepriesene Muster von der Auswahl der Tüchtigsten durch das Bildungssystem geradezu unterläuft.
Da die sogenannte digitale Revolution kaum aufzuhalten sein wird – Maschinenstürmerei war noch nie erfolgreich –, stehen wir nun am Scheideweg und damit vor einer Entscheidung: Denke ich die Notwendigkeit der Nachhaltigkeit mit der offenbar herankommenden Verminderung des Arbeitsangebots zusammen, erscheint das Prinzip des Teilens als der gebotene Ausweg.
Über eine angemessene Verteilung der nationalen Reichtümer können wir uns Spielraum verschaffen, ohne damit, wie immer wieder in Kassandra-Manier verkündet wird, nicht länger wettbewerbsfähig zu sein. Es ist ja keineswegs so, dass all die gehorteten Reichtümer unentwegt in innovative Unternehmungen gesteckt würden, zum Wohl der Sache wie der Allgemeinheit. Vielmehr dient das meiste Geld bloß als Einsatz für das Gewinnspiel an den Börsen. Das Argument von der Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit halte ich für einen Vorwand, um die Eigentumsfrage zu umgehen.
Teilen in recht verstandenem Sinn heißt aber nicht nur, den überbordenden Reichtum zu verteilen, es heißt vielmehr, auf jeder Ebene innerhalb der Sozietäten zu teilen, aber auch zwischen den Sozietäten. Armut, materiell oder geistig, ist unser größter Feind.
Grundsätzlich denke ich, in diesem Punkt wie in anderen, man soll nicht zimperlich sein und hundert kleine Bedenken und Ängste aufbauen, bloß um von der einen, der großen Angst abzulenken: dass nämlich alles, unser gesamtes gewohntes Lebenssystem mit einem Mal und schlagartig den Bach hinuntergehen könnte.
Teilen wäre auch in Hinsicht auf die über Maschineneinsatz lukrierten Profite angesagt: Es ist ja nicht so, dass der von Maschinen geschaffene Mehrwert den Eigentümern zukommt, weil sie die Erfinder, Erbauer et cetera dieser Maschinen sind. Ihr Verdienst besteht darin, ihr Kapital für die Entwicklung beziehungsweise den Erwerb dieser Maschinen eingesetzt zu haben: Es soll entlohnt sein. Das fortwirkende Verdienst jener, die die Maschinen erfunden und gebaut haben, muss aber auch entlohnt werden.
Auch eine Teilung der Arbeit muss erwogen werden, in dem Sinn, dass jeder sein Potenzial einbringen können muss und darf. Eine Gesellschaft, wie Marx sie als Eschatologie skizziert, in der Maschinen für uns arbeiten, wir selbst jedoch müßig sind, spazieren gehen, Boot fahren oder fischen? Vielleicht kann es gelingen, ein Menschsein jenseits der Arbeit zu realisieren. Der Weg dahin dürfte weit sein, vor allem auch deshalb, weil wir, allein zur Aufrechterhaltung unserer Zivilisation, auf helle Köpfe nicht werden verzichten können.
Soll das Marktsystem aufrechterhalten werden? Es wäre ein großer Fehler, kommt mir vor, auf den Ehrgeiz, auf das Streben nach Anerkennung, Macht, Ruhm, auf was auch immer zu verzichten. Wie alles und jedes, was wir in der Natur um uns haben, in Konkurrenz zueinander steht, so stehen auch die Menschen zueinander in Konkurrenz. Das zweite Prinzip, dem ersten gegenläufig, ist das Prinzip der Kooperation, der gegenseitigen Hilfe, das wir ebenfalls von der Natur ablesen können.
Die Verzahnung dieser beiden Prinzipien ist sehr subtil, ein und derselbe Mitspieler im Naturschauspiel kann etwa zugleich Konkurrent und andererseits Teilnehmer einer Kooperation sein, vielmehr, mir kommt vor, das ist der gewöhnliche Fall. – Wir würden gut fahren, denke ich, würden wir dieses subtile Konzept, einerseits Konkurrenz, andererseits Kooperation, auch auf unsere Angelegenheiten anwenden. Was in der Frage des Marktes heißt: Möge der Markt florieren, freilich im von der Sozietät festgesetzten Rahmen. Der Staat als Regulator ist daher unabdingbar: Wer sonst sollte den Markt so organisieren, dass sein Treiben uns nützt? Die oben angeführten Einwände gegen die real bestehenden Staaten habe ich freilich im Ohr. Was bleibt uns aber anderes übrig, als uns auf dem Prokrustesbett der Möglichkeiten herumzuwälzen?
Wollen wir das uns teure Prinzip der Freiheit dem Staat gegenüber hochhalten – und das wollen wir unbedingt –, bleibt als Lösung nur das Subsidiaritätsprinzip: Was der Einzelne bewerkstelligen kann, soll er allein bewerkstelligen; was Gruppen bewerkstelligen können, mögen diese bewerkstelligen. Der Staat hat bloß die Rahmenbedingungen festzulegen, innerhalb deren das soziale Spiel auf seinen vielen Ebenen läuft.
Schön und gut – aber wer soll deine Utopie verwirklichen? So weit ich sehe, ist die bürgerlich-kleinbürgerliche Mitte der Gesellschaft der Wohlfahrtsstaaten, die staatstragende Schicht, im Moment jeder Änderungsdebatte abgeneigt, sobald sie Eingriffe am Eigentum vorsieht. Hier liegt auch einer der problematischsten Punkte demokratischen Politikverständnisses überhaupt: Eine Politik, die kurzfristig ihre Wähler zufriedenstellen will, um sich an der Macht zu halten, wird schwerlich gegen die Interessen dieser Wähler handeln, selbst wenn sie erkennt und erkennen sollte, dass ein Wechsel, vielleicht sogar ein grundlegender Wechsel der Politik angebracht oder notwendig wäre. Haben wir Ähnliches nicht von den Managern von Firmen behauptet?
Da die grundlegende Frage nicht gestellt wird, und wenn, jedenfalls verworfen wird, bietet sich als Lösung der anstehenden Probleme für jetzt einmal vor allem die Flucht ins Irreale an, in nationale, völkische oder rassistische Traumbilder. Die Besitzenden, so sie nicht mitträumen, spielen meist mit aus Berechnung. Der Weg nach rechts ist einladend, ja verlockend. Er verspricht nämlich, man könne träumend auf alten Wegen weitergehen und müsse nichts ändern – und wenn, dann nur auf Kosten anderer, speziell von Minderheiten: Möge alles nur bleiben, wie es ist oder, besser noch, wie es in märchenhafter Vergangenheit einmal war: Dies ist die einfachste, die bequemste, auf lange Sicht aber gerade die Utopie, die zuletzt stets am teuersten kommt.