Österreich im Pflegenotstand
Betreuung. Der aktuelle Bericht der Volksanwaltschaft weist eklatante Missstände in Alten- und Pflegeheimen auf. Angesichts der steigenden Zahl an pflegebedürftigen Menschen dürfte sich die Lage künftig verschärfen.
Wien. Bettlägrige Menschen, die stundenlang in Kot und Harn liegen müssen, weil sich die Pflegekräfte nicht einigen können, wer für sie zuständig ist. Senioren, die gewickelt werden, obwohl sie nicht inkontinent sind. Oder ohne medizinische Notwendigkeit – teilweise gegen ihren Willen – Medikamente verabreicht bekommen, um ruhiggestellt zu werden. Und nur ein Badetag in der Woche – der ausfällt, sollte er auf einen Feiertag fallen. „Strukturelle Gewalt“und „krasse Menschenrechtsverletzung“nennt die Volksanwaltschaft im Ö1-„Morgenjournal“solche Vernachlässigungen und hygienischen Missstände, die sie im vergangenen Jahr bei Kontrollbesuchen in Alten- und Pflegeheimen festgestellt und in ihrem aktuellen Bericht veröffentlicht hat. Aber handelt es sich um Einzelfälle, oder liegen den Missständen generelle Strukturprobleme zugrunde? Hier die wichtigsten Fragen und Antworten.
1 Wie kann es in Alten- und Pflegeheimen in Österreich überhaupt zu derartigen Missständen kommen?
So erschreckend und verstörend der Bericht der Volksanwaltschaft wirken mag, für Pflegebedienstete in Österreich ist er alles andere als überraschend und eine logische Konsequenz von permanentem Personalmangel aus Kostengründen und chronischer Überlastung. Das Fehlen von Fachkräften wird zudem oft mit weniger gut qualifiziertem Personal ausgeglichen. Diese Mitarbeiter dürften einige Tätigkeiten, etwa das Legen von Sonden, gar nicht durchführen.
Das Hauptproblem ist das Fehlen einer einheitlichen, bundesweiten Personalbedarfsberechnung. Das heißt, dass es weder bei der Anzahl an Pflegekräften im Verhältnis zu Heimbewohnern noch bei deren Ausbildung konkrete, verbindliche Vorgaben gibt. Darüber hinaus wird beim Personalbedarf kaum zwischen Patienten mit höherem (etwa bettlägrigen Bewohnern) oder niedrigerem Pflegebedarf unterschieden – trotz unterschiedlicher Anforderungen an die Pflege. Daher können die Heime in den einzelnen Bundesländern ihre eigenen Berechnungen durchführen und ihr Personal so kostengünstig wie möglich besetzen.
So werden beispielsweise teure Diplompfleger eingespart und vermehrt durch günstigere Pflegefachassistenten oder Pflegeassistenten (früher Pflegehilfe) ersetzt, die nicht über die entsprechende Qualifikation verfügen und oft überfordert sind. „Die derzeitige Struktur ist nur auf Systemerhalt aufgebaut“, sagt Fabian Martin, Vorsitzender der neu gegründeten Pflegegewerkschaft in Österreich. „Dass Menschen in ihrem Kot liegen müssen oder tagelang nicht gebadet werden, kann ich mir nur durch die totale Überforderung und die Angst der Pflegekräfte um ihren Job erklären.“Denn eigentlich müsste das Personal bei Überlastung eine Gefährdungsanzeige bei der Heimleitung erstatten. „Aber“, so Martin, „das machen die wenigsten, weil ihnen in solchen Fällen mit Kündigung gedroht wird. Das können wir mit mehreren E-Mails nachweisen.“
2 Wie viele pflegebedürftige Menschen gibt es in Österreich, und wie bzw. in welchen Einrichtungen werden sie betreut?
Derzeit gibt es 455.000 Menschen, die Pflegegeld beziehen. Der Großteil (84 Prozent) wird zu Hause versorgt – nur 16 Prozent aller Pflegebedürftigen leben in Heimen. Österreichweit gibt es 80.000 stationäre Einrichtungsplätze und ca. 75.000 Personen, die sie in Anspruch nehmen. Die Pflege jener Personen, die zu Hause sind, übernehmen zu 39 Prozent Angehörige. Es sind noch immer am häufigsten die Töchter und Schwiegertöchter, die sich um Alte und Kranke kümmern. Die Pflegetätigkeit hat eklatante Auswirkungen auf deren Berufsleben: Nur zwölf Prozent der pflegenden Angehörigen sind vollzeitbeschäftigt, elf Prozent teilzeitbeschäftigt.
3 Wie wird sich die Pflegesituation in Österreich in den kommenden Jahren weiterentwickeln?
Die Gruppe der über 80-Jährigen wird bis 2030 um 47 Prozent wachsen – demnach wird es auch deutlich mehr Pflegebedürftige geben, die Betreuungseinrichtungen müssen ausgebaut werden. Schon jetzt ist klar, dass bis 2025 rund 22.500 zusätzliche Pflegeund Betreuungskräfte gebraucht werden – und schon jetzt kommt ein Großteil der Pflegekräfte aus dem Ausland, weil in Österreich zu wenige diese Arbeit verrichten wollen. Gesundheitsminister Alois Stöger (SPÖ) hat nun einen ersten Plan präsentiert: Künftig soll vor allem die Lücke zwischen der 24-Stunden-Pflege und mobilen Diensten geschlossen werden (siehe Seite 2). Eine Studie zur Situation pflegender Angehöriger wird gerade erstellt.