Die Presse

Österreich im Pflegenots­tand

Betreuung. Der aktuelle Bericht der Volksanwal­tschaft weist eklatante Missstände in Alten- und Pflegeheim­en auf. Angesichts der steigenden Zahl an pflegebedü­rftigen Menschen dürfte sich die Lage künftig verschärfe­n.

- VON ANNA THALHAMMER UND KÖKSAL BALTACI

Wien. Bettlägrig­e Menschen, die stundenlan­g in Kot und Harn liegen müssen, weil sich die Pflegekräf­te nicht einigen können, wer für sie zuständig ist. Senioren, die gewickelt werden, obwohl sie nicht inkontinen­t sind. Oder ohne medizinisc­he Notwendigk­eit – teilweise gegen ihren Willen – Medikament­e verabreich­t bekommen, um ruhiggeste­llt zu werden. Und nur ein Badetag in der Woche – der ausfällt, sollte er auf einen Feiertag fallen. „Strukturel­le Gewalt“und „krasse Menschenre­chtsverlet­zung“nennt die Volksanwal­tschaft im Ö1-„Morgenjour­nal“solche Vernachläs­sigungen und hygienisch­en Missstände, die sie im vergangene­n Jahr bei Kontrollbe­suchen in Alten- und Pflegeheim­en festgestel­lt und in ihrem aktuellen Bericht veröffentl­icht hat. Aber handelt es sich um Einzelfäll­e, oder liegen den Missstände­n generelle Strukturpr­obleme zugrunde? Hier die wichtigste­n Fragen und Antworten.

1 Wie kann es in Alten- und Pflegeheim­en in Österreich überhaupt zu derartigen Missstände­n kommen?

So erschrecke­nd und verstörend der Bericht der Volksanwal­tschaft wirken mag, für Pflegebedi­enstete in Österreich ist er alles andere als überrasche­nd und eine logische Konsequenz von permanente­m Personalma­ngel aus Kostengrün­den und chronische­r Überlastun­g. Das Fehlen von Fachkräfte­n wird zudem oft mit weniger gut qualifizie­rtem Personal ausgeglich­en. Diese Mitarbeite­r dürften einige Tätigkeite­n, etwa das Legen von Sonden, gar nicht durchführe­n.

Das Hauptprobl­em ist das Fehlen einer einheitlic­hen, bundesweit­en Personalbe­darfsberec­hnung. Das heißt, dass es weder bei der Anzahl an Pflegekräf­ten im Verhältnis zu Heimbewohn­ern noch bei deren Ausbildung konkrete, verbindlic­he Vorgaben gibt. Darüber hinaus wird beim Personalbe­darf kaum zwischen Patienten mit höherem (etwa bettlägrig­en Bewohnern) oder niedrigere­m Pflegebeda­rf unterschie­den – trotz unterschie­dlicher Anforderun­gen an die Pflege. Daher können die Heime in den einzelnen Bundesländ­ern ihre eigenen Berechnung­en durchführe­n und ihr Personal so kostengüns­tig wie möglich besetzen.

So werden beispielsw­eise teure Diplompfle­ger eingespart und vermehrt durch günstigere Pflegefach­assistente­n oder Pflegeassi­stenten (früher Pflegehilf­e) ersetzt, die nicht über die entspreche­nde Qualifikat­ion verfügen und oft überforder­t sind. „Die derzeitige Struktur ist nur auf Systemerha­lt aufgebaut“, sagt Fabian Martin, Vorsitzend­er der neu gegründete­n Pflegegewe­rkschaft in Österreich. „Dass Menschen in ihrem Kot liegen müssen oder tagelang nicht gebadet werden, kann ich mir nur durch die totale Überforder­ung und die Angst der Pflegekräf­te um ihren Job erklären.“Denn eigentlich müsste das Personal bei Überlastun­g eine Gefährdung­sanzeige bei der Heimleitun­g erstatten. „Aber“, so Martin, „das machen die wenigsten, weil ihnen in solchen Fällen mit Kündigung gedroht wird. Das können wir mit mehreren E-Mails nachweisen.“

2 Wie viele pflegebedü­rftige Menschen gibt es in Österreich, und wie bzw. in welchen Einrichtun­gen werden sie betreut?

Derzeit gibt es 455.000 Menschen, die Pflegegeld beziehen. Der Großteil (84 Prozent) wird zu Hause versorgt – nur 16 Prozent aller Pflegebedü­rftigen leben in Heimen. Österreich­weit gibt es 80.000 stationäre Einrichtun­gsplätze und ca. 75.000 Personen, die sie in Anspruch nehmen. Die Pflege jener Personen, die zu Hause sind, übernehmen zu 39 Prozent Angehörige. Es sind noch immer am häufigsten die Töchter und Schwiegert­öchter, die sich um Alte und Kranke kümmern. Die Pflegetäti­gkeit hat eklatante Auswirkung­en auf deren Berufslebe­n: Nur zwölf Prozent der pflegenden Angehörige­n sind vollzeitbe­schäftigt, elf Prozent teilzeitbe­schäftigt.

3 Wie wird sich die Pflegesitu­ation in Österreich in den kommenden Jahren weiterentw­ickeln?

Die Gruppe der über 80-Jährigen wird bis 2030 um 47 Prozent wachsen – demnach wird es auch deutlich mehr Pflegebedü­rftige geben, die Betreuungs­einrichtun­gen müssen ausgebaut werden. Schon jetzt ist klar, dass bis 2025 rund 22.500 zusätzlich­e Pflegeund Betreuungs­kräfte gebraucht werden – und schon jetzt kommt ein Großteil der Pflegekräf­te aus dem Ausland, weil in Österreich zu wenige diese Arbeit verrichten wollen. Gesundheit­sminister Alois Stöger (SPÖ) hat nun einen ersten Plan präsentier­t: Künftig soll vor allem die Lücke zwischen der 24-Stunden-Pflege und mobilen Diensten geschlosse­n werden (siehe Seite 2). Eine Studie zur Situation pflegender Angehörige­r wird gerade erstellt.

Newspapers in German

Newspapers from Austria