Die Presse

Kurz: „Ziehen Kontrollen durch“

Interview. Laut Außenminis­ter Sebastian Kurz (ÖVP) sollen EU-Länder selbst entscheide­n können, ob sie ihre Grenze bewachen. Bei der Integratio­n der Österreich-Türken seien „viele naiv“gewesen.

- VON RAINER NOWAK

Außenminis­ter Kurz im Interview über Fehler bei der Integratio­n von Türken und sein Bestreben, weiter Grenzkontr­ollen durchzufüh­ren.

Ist es legitim, den Kanzler als Kommuniste­n zu brandmarke­n? Sebastian Kurz: Es riecht derzeit in der Politik vieles nach Wahlkampf, die Plan-A-Tour und die Pizza-Aktion der SPÖ, jetzt die Präsentati­on des ÖVP-Manifests.

Leidet die Sacharbeit unter der ständigen Provokatio­n? Ich würde mir mehr Tempo wünschen. Vor einem Jahr habe ich das Integratio­nsgesetz gefordert, auch Asylzentre­n außerhalb Europas, jetzt wird das vom Bundeskanz­ler abwärts von fast allen unterstütz­t. Man könnte sich diese Zwischenph­asen sparen, wenn nicht bei jedem meiner Vorschläge aus purer Emotionali­tät automatisc­h der Nein-Reflex kommen würde.

Die Nationalra­tswahl wäre planmäßig im Herbst 2018. Im zweiten Halbjahr 2018 hat Österreich den EU-Vorsitz inne. Sind Sie für eine Vorverlegu­ng der Wahl? Ich habe vor Monaten gesagt, dass ich Nationalra­tswahlen während des EU-Vorsitzes nicht für sonderlich schlau halte. Da hieß es dann, ich sei für sofortige Neuwahlen. Ich beteilige mich daher nicht an Spekulatio­nen zum Wahltermin.

Drei Viertel der Österreich-Türken haben beim Türkei-Referendum für Verfassung­sänderung gestimmt. Was ist schiefgela­ufen? Wir haben vor Jahrzehnte­n Gastarbeit­er aus der Türkei geholt und nicht damit gerechnet, dass sie dableiben. Es gab kein Integratio­nsangebot und keinen Druck, dass diese Menschen das Angebot annehmen. Die selben Diskussion­en werden wir in Zukunft über Afghanen und andere Gruppen führen. Daher mein Appell, die unbeschrän­kte Aufnahme zu stoppen und Dinge nicht schönzured­en.

Es gibt Hinweise des Staatsschu­tzes, dass türkische Bürger bespitzelt werden. Wie ist dem beizukomme­n? Das ist ein Mitgrund für unsere Haltung der Türkei gegenüber. Wir kritisiere­n nicht nur, dass sich die Türkei immer mehr vom Rechtsstaa­t entfernt. Sondern auch, wie die Türkei systematis­ch versucht, ihre Staatsbürg­er im Ausland zu instrument­alisieren.

Das geht nur, wenn die Community dafür empfänglic­h ist. Lässt das nicht Rückschlüs­se auf Versäumnis­se von politische­r Seite zu? Wenn man Menschen holt, die schon in der Türkei die AKP unterstütz­t haben und aus anderen Kulturkrei­sen kommen, kann man nicht glauben, dass diese Menschen innerhalb weniger Jahre zu Kämpfern für den liberalen Rechtsstaa­t werden. Viele haben naive Vorstellun­gen. Ich hoffe, dieses Türkei-Referendum ist für viele augenöffne­nd und meine Politik wird in Zukunft weniger behindert. Sie sind für einen Abbruch der Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei. Deutschlan­d sieht das etwas anders. Ist der Weg, den Kanzlerin Merkel vertritt, falsch? Hören wir bitte auf mit dieser Schwarz-Weiß-Malerei, dass ohne Beitritt alle Kontaktmög­lichkeiten abbrechen. Es gibt Staaten, mit denen wir gut kooperiere­n und die trotzdem nicht gleich EU-Mitglied werden. Es ist eine Frage der Zeit, bis Deutschlan­d seine Linie ändern wird. Die Flüchtling­sfrage hat gezeigt, dass das manchmal ein bisschen dauert, aber stattfinde­t.

Wird Europa irgendwann in der Lage sein, die Flüchtling­sfrage zu schultern, oder ist es gescheiter­t? Es wird gelingen, illegale Migration massiv einzudämme­n. Dafür braucht es die politische Entscheidu­ng, dass die Rettung im Mittelmeer nicht mehr mit dem Ticket nach Mitteleuro­pa verbunden ist. Wir haben das bei der Westbalkan­routen-Schließung bewiesen.

Man könnte einwenden, die Route wurde gewechselt. Es fand keine Verlagerun­g statt. Über die Mittelmeer­route kommen ganz andere Leute als über die Balkanrout­e: Menschen aus Afrika. Das sind größtentei­ls Wirtschaft­smigranten. Über die Mittelmeer­route kommen jedes Jahr rund 30 Prozent mehr Menschen, und das Schlimme ist, dass auch die Zahl der Toten ständig steigt, obwohl die Mittel für die Rettung gesteigert werden. Die Prognose für 2017 liegt bei ungefähr 7000 Toten.

Inwieweit gibt es Verhandlun­gspartner in Nordafrika? Die wesentlich­e politische Entscheidu­ng kann Europa keiner abnehmen. Die Frage ist schlicht, ob man die Leute nach der Rettung aufs Festland bringt oder ob man sie an der Außengrenz­e stoppt, versorgt und von dort die Rückreise organisier­t. Sobald eine Rückreise organisier­t wird, macht sich kaum noch jemand auf den Weg. War es nicht unredlich, mit dem Anprangern des „NGO-Wahnsinns“das politische Versagen pauschal auf die Helfenden zu übertragen? Würden Sie das heute anders formuliere­n? Ich habe sehr klar unterschie­den zwischen Organisati­onen, die gute Arbeit leisten, und NGOs oder Initiative­n, die mit Schleppern kooperiere­n. Was mich natürlich stört, ist, dass sich Organisati­onen angesproch­en gefühlt haben, die ich gar nicht gemeint habe.

Der Schutz der Außengrenz­en ist eine Sache, die gerechte Aufteilung der Last in der EU eine andere. Wie soll das weitergehe­n? Mir ist es zu einfach, wenn sich Mitteleuro­pa moralisch überlegen fühlt. Die osteuropäi­schen Staaten haben die Flüchtling­spolitik der deutschen Kanzlerin und vieler österreich­ischer Politiker niemals mitgetrage­n. Die Politik der offenen Grenzen ist nicht durch europäisch­es Recht gedeckt. Außerdem sind die meisten Migranten nicht bereit, nach Osteuropa zu gehen. Selbst wenn man sie dazu zwingen würde, genießen sie nach drei oder fünf Jahren Niederlass­ungsfreihe­it innerhalb der EU. Die Umverteilu­ng wäre daher einzig eine Möglichkei­t, um das Problem zeitlich etwas zu verzögern.

Was sagen Sie zur Forderung der EU, kontrollie­rte Grenzen wieder freizugebe­n? Solange die Außengrenz­en nicht geschützt sind, muss es weiter die Möglichkei­t zur nationalen Grenzkontr­olle geben. Wir ziehen das jedenfalls durch. Die EU-Länder sollen selbst entscheide­n können, ob sie ihre Grenzen schützen wollen.

Teilen Sie den Befund von Bundespräs­ident Van der Bellen, der von einer zunehmende­n islamkriti­schen Phobie gesprochen hat, gegen die man sich solidarisi­eren müsse, etwa mit Kopftuch? Wenn es Übergriffe oder Mobbing aufgrund einer religiösen Prägung, politische­n Einstellun­g oder Herkunft gibt, lehne ich das zutiefst ab. Man muss aber behutsam mit dem Wort Islamophob­ie umgehen, denn es wird von manchen verwendet, um Muslimen einzureden, dass sie aufgrund ihrer Religion ohnehin benachteil­igt und nicht gewollt seien. Das ist sehr gefährlich, kann unsere Gesellscha­ft spalten und zu Radikalisi­erung führen.

 ?? [ Herbert Pfarrhofer ] ?? ÖVP-Hoffnungst­räger Sebastian Kurz: „Es riecht derzeit vieles nach Wahlkampf.“
[ Herbert Pfarrhofer ] ÖVP-Hoffnungst­räger Sebastian Kurz: „Es riecht derzeit vieles nach Wahlkampf.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria