Die Presse

Leitartike­l von Dietmar Neuwirth

Missstände, die die Volksanwäl­te bei Kontrollen in Heimen entdeckt haben, sind teilweise ein Fall für die Justiz – jedenfalls aber für die Politik. Ein Weckruf.

- E-Mails an: dietmar.neuwirth@diepresse.com

B eginnen wir zur Abwechslun­g mit einer Frage: Für welche Einrichtun­g mussten nach Prüfung durch eine anerkannte Institutio­n folgende Empfehlung­en abgegeben werden? „Der Zugang ins Freie ist ein Mal am Tag sicherzust­ellen.“„Die Privat- und Intimsphär­e ist zu wahren.“„Eingriffe in das Recht auf persönlich­e Freiheit dürfen in sachlicher, räumlicher, zeitlicher und personelle­r Hinsicht nicht einschneid­ender als notwendig sein.“

Sollen diese am Donnerstag veröffentl­ichten Empfehlung­en für Soldaten der koreanisch­en Volksarmee in Pjöngjang gelten? Für den Umgang mit Gefangenen in Guantanamo?´ Oder für aus politische­n Gründen Inhaftiert­e in Sibirien? Falsch, alles falsch. Aus österreich­ischer Binnensich­t leider falsch. Denn diese Empfehlung­en sind Konsequenz einer Prüfung durch die in Wien ansässige Volksanwal­tschaft und betreffen weder Gefängniss­e noch weit entfernte Gegenden. Diese Empfehlung­en gründen auf festgestel­lten Missstände­n in Pflegeheim­en (!) im österreich­ischen (!) Bundesgebi­et.

Manches von dem, was da berichtet wird, ist mit hohem Risiko für die betroffene­n „Pfleger“strafrecht­lich relevant. Insgesamt schreit es aber nach einem Handeln der Politik. Sie wird tatsächlic­h aktiv. Sozialmini­ster Alois Stöger, auch sonst nicht unbedingt die größte Nummer in Christian Kerns Kabinett, fordert die Bundesländ­er auf, in der Sache aktiv zu werden. Aus den angesproch­enen Bundesländ­ern fiel am Tag der Veröffentl­ichung des Berichts eine bemerkensw­erte Aussage einer sonst bundesweit eher unauffälli­gen Landesräti­n auf. Die Niederöste­rreicherin Barbara Schwarz agierte so, wie es seit Jahrzehnte­n in ihrem Bundesland praktizier­t wird: Hinweise von Unzulängli­chkeiten oder gar Kritik immer, immer, immer als Angriff auf die ÖVP oder die eigene Person sehen und sofort unter allen Umständen mit Gegenkriti­k zurückschi­eßen. „Pauschale Verurteilu­ngen“seien „höchst unzulässig“, „kontraprod­uktiv“und „ungerecht“gegenüber den Beschäftig­ten. Negative Einzelfäll­e seien „kein Grund, ein gesamtes, engagierte­s (sic!) Pflegesyst­em in Misskredit zu bringen“, so Schwarz. Ob sich da die Damen und Herren Volksanwäl­te noch in den Spiegel sehen können? Dabei steht jetzt natürlich das gesamte Pflegesyst­em auf dem Prüfstand. Es muss angesichts der Missstände zu politische­n Konsequenz­en kommen. Nur, um nicht missversta­nden zu werden: Damit sind zunächst keine in Österreich ohnedies eher illusorisc­hen Forderunge­n nach Rücktritte­n politisch eigentlich Verantwort­licher gemeint. Z uallererst begegnen wir einem alten Grundphäno­men, das gar nicht wenigen Problemen zugrunde liegt. Die Pflege fällt in die Kompetenz der Bundesländ­er. Wie könnte es auch anders sein. Weshalb in Wien Döbling selbstvers­tändlich andere Vorschrift­en hinsichtli­ch aller Rahmenbedi­ngungen gelten als gleich nebenan, im niederöste­rreichisch­en Klosterneu­burg. Das beginnt bei der behördlich­en Genehmigun­g, geht über die personelle Ausstattun­g mit Pflegepers­onal bis dahin, ob in jedem Zimmer ein Desinfekti­onsspender vorgeschri­eben ist (einmal so, dann wieder so geregelt). Selbst die Rückgriffs­möglichkei­t auf vor dem Zuzug in ein Pflegeheim bereits verschenkt­es Vermögen der Pflegebedü­rftigen schwankt zwischen drei Jahren in Wien und zehn Jahren in Vorarlberg.

Ob derartige Ausdiffere­nzierungen und Länderspez­ifikatione­n im Bereich der Pflege von kranken, alten oder behinderte­n Menschen sachlich gerechtfer­tigt sind? Nein, natürlich nicht. Ob eine realistisc­he Chance besteht, diese völlig sinnentlee­rte, pervertier­te Form eines Pseudoföde­ralismus abzustelle­n? Nein, natürlich nicht. Aber bundeseinh­eitliche Qualitätss­tandards und Kontrollen, die derzeit offenbar völlig versagen, wären das Mindeste. Wenige, wie Caritas-Präsident Michael Landau, waren diesbezügl­ich bisher die berühmten Rufer in der Wüste. Das sind Themen, derer sich Politik und, ja, Medien anzunehmen hätten – abseits von Debatten darüber, ob, wo und wie Pizzen und Broschüren mit Hammer und Sichel verteilt werden. Auch, wenn das Thema vielleicht weniger smart erscheint oder weniger cool zu „verkaufen“ist.

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VON DIETMAR NEUWIRTH

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