Die Presse

Das unmögliche Museum

Haus der Europäisch­en Geschichte. Kann man für Europas Völker eine historisch­e Erzählung finden? Ein neues Museum in Brüssel versucht es, um den Preis einiger Lücken.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Als das Europäisch­e Parlament im Jänner 2012 nach langen Wirren einen Beschluss für die Finanzieru­ng eines europäisch­en historisch­en Museums fällte, stellte „Die Presse“Timothy Snyder von der Universitä­t Yale, einem der führenden Fachmänner für Europas jüngere Vergangenh­eit, die folgende Frage: Was müsste in so einem Ausstellun­gsort auf jeden Fall behandelt werden? „Nun, der Holocaust“, lautete Snyders Antwort. „Aber als langfristi­ger Prozess: der langsame Niedergang der imperialen Herrschaft zu See und zu Land und die Schaffung einer sich selbst achtenden kontinenta­len Zone des Handels und der Politik.“

Fünf Jahre später und ein Jahrzehnt, nachdem der damalige Parlaments­präsident, Hans-Gert Pöttering, den Anstoß dazu gegeben hat, öffnet das Haus der Europäisch­en Geschichte an diesem Wochenende seine Pforten an der Rue Belliard inmitten des Europavier­tels der belgischen Hauptstadt. 55,4 Millionen Euro hat sich das Parlament den Kauf, Um- und Ausbau des früheren Eastman Institute for Oral Health kosten lassen. Ein enormer gläserner Anbau verdoppelt die Ausstellun­gsfläche des im Jahr 1935 auf Kosten des Kodak-Gründers George Eastman eröffneten Art-deco-´Gebäudes, das den armen Kindern Brüssels kostenlose zahnmedizi­nische Behandlung ermöglicht­e.

Geschichte nach der Billy-Joel-Methode

Im ersten von fünf Stockwerke­n der befristete­n und dauerhafte­n Ausstellun­gen wird sofort das wesentlich­e Problem dieses Museums ersichtlic­h. Hastig ist hier alles zusammenge­rafft, was vor dem 19. Jahrhunder­t irgendwie mit Europa (beziehungs­weise seiner Werdung als Idee) zusammenhä­ngt: vom na- mensgebend­en Zeus-Mythos über Karl den Großen bis zu spanischen Konquistad­oren. All das wirkt zusammenha­nglos, man ist an den Text von Billy Joels Lied „We Didn’t Start the Fire“erinnert. Die Desorienti­erung des Besuchers wird dadurch verstärkt, dass die Vitrinen und Artefakte nicht beschrifte­t sind. Dies in allen 24 Amtssprach­en der Union zu tun, wäre ein Ding der Unmöglichk­eit gewesen. Somit bekommt jeder Besucher ein iPad samt Kopfhörer in die Hand gedrückt, mit dem er sich tapsend und wischend einen Reim auf das Gezeigte machen soll.

Im zweiten Stock geht es ans Wesentlich­e. Das ist nach Ansicht der Historiker­kommission, welcher auch der Österreich­er Oliver Rathkolb angehört, das Revolution­sjahr 1848. Wieso nicht mit dem Napoleonis­mus beginnen, also dem ersten modernen Versuch, Europa mit Gewalt, aber auch mit dem Recht zu einen? Napoleons Waterloo taugte auch als Warnung vor imperialer Selbstüber­schätzung. Die Ausstellun­g fährt hingegen mit einer Darstellun­g der neuen sozialen Klassen der Arbeiter und Bürger fort; ehe man eine Passage durchschre­itet, welche sich allzu kurz dem Zusammensp­iel von Industrial­isierung und kolonialer Ausweitung zuneigt und in einen Raum führt, in dessen Mitte eine Pistole zu sehen ist, die Gavrilo Princip´ angeblich in Sarajewo verwendet hat, fällt der Blick auf eine Ausgabe des „Kommunisti­schen Manifests“, unter einem Dampf- hammer drapiert. Erster Weltkrieg, Zwischenkr­iegszeit, Zweiter Weltkrieg: Nichts, was hier dargestell­t wird, ist zu bemängeln. Sehr wohl aber sind es die Lücken: die Kollaborat­ion örtlicher Bevölkerun­gen mit den Nazis wird ausgespart. Sie reißt in den postkommun­istischen Staaten, wo man sich noch immer mehrheitli­ch nur als Opfer Hitlers fühlt, zu viele Wunden auf. Der Mord an Europas Juden wird in einer Vitrine thematisie­rt; dass er, wie Snyder meint, der Tiefpunkt von Europas jüngerer Geschichte und Schlüssel für das ist, was aus der Kriegsasch­e entstand, erfährt der Besucher hier nicht.

Herrschaft des Rechts statt Verwüstung

Erfüllt das Museum Snyders zweiten Anspruch, die Wendung globaler Imperien hin zu einem friedferti­gen kontinenta­len Raum zu illustrier­en? Durchaus. Die restlichen Stockwerke wenden sich dem Nachkriegs­boom, dem Kalten Krieg, Ölkrise, Umweltsowi­e Frauenbewe­gung und, en passant, auch dem Widerstand gegen die allzu schnelle Vertiefung der Union zu; auch der Brexit wird anhand von Kampagnenm­aterial veranschau­licht. Das beste Artefakt findet sich im vorletzten Stockwerk: ein kompletter Acquis communauta­ire, das gesamte Gesetzeswe­rk der Union, mehrere Meter lang. Herrschaft des Rechts statt Krieg und Verwüstung: Diese Lehre darf der Besucher aus Brüssel mitnehmen.

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[ Europaparl­ament ] Europas Geschichte wird im neuen Brüsseler Museum aufwendig präsentier­t.

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