Reform oder Zerfall, das ist die Frage
EU-Reform. Ein Sieg des proeuropäischen Kandidaten Macron in Frankreich könnte ein Opportunitätsfenster für eine Euroreform aufstoßen. Wird das nicht genutzt, droht Zerfall.
Wir werden die EU reformieren, oder es wird einen Frexit (also den Austritt Frankreichs aus der Union, Anm.) geben“: Große Worte, die der französische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron da neulich in einem BBC-Interview von sich gegeben hat. Macron gilt als leidenschaftlicher Europäer und als Favorit für die Stichwahl um die französische Präsidentschaft am kommenden Sonntag.
Gut möglich also, dass sich jetzt ein Opportunitätsfenster für die dringend notwendige Reform der EU, vor allem für jene der Eurozone, auftut. Auch wenn es eher fraglich ist, ob die beiden nach dem Brexit dominierenden Länder der EU, nämlich Deutschland und Frankreich, unter Reform wirklich dasselbe verstehen.
Dass die EU und vor allem die Eurozone in ihrer derzeitigen Dysfunktionalität keine Zukunft haben, gilt unterdessen ja als Allgemeingut. Auch die Ursache: Die ursprünglichen Strukturen waren ganz offen als Vorbereitung für die Vereinigten Staaten von Europa gedacht. Ein Konzept, bei dem der größere Teil der europäischen Bevölkerung nicht mitgegangen ist. Leider, muss man sagen, aber damit muss man jetzt leben.
Das macht vor allem der Eurozone schwer zu schaffen: Eine gemeinsame Währung setzt eigentlich ein vergleichsweise hohes Maß an Konvergenz, vor allem aber eine konsistente, gemeinsame Fiskalpolitik voraus.
Macron hat sich in der Vergangenheit mehrfach massiv dafür ausgesprochen. Er hat beispielsweise die Schaffung eines zentralen Eurozonen-Finanzministeriums verlangt, das eine gemeinsame Fiskalpolitik durchsetzen könnte. Das klingt sehr plausibel für eine Region mit einer gemein- samen Währung. Denn dass Konvergenz durch zwischenstaatliche Vereinbarungen wie etwa die Maastricht-Kriterien schwer herstellbar ist, hat sich unterdessen ja gezeigt. Zumal dann, wenn ausgerechnet die Konstrukteure dieser Vereinbarung, Deutschland und Frankreich, zu den Ersten gehören, die die Vereinbarungen brechen.
Die EU und vor allem die Eurozone leiden da an einem Phänomen, das Österreicher vom heimischen Föderalismus her kennen: Wenn regionale Partikularinteressen größeres politisches Gewicht haben als das gemeinsame Ganze, dann funktioniert eine solche Konstruktion nicht.
Mit dem Euro-Finanzminister werden die Franzosen in Deutschland aber wohl auf Granit beißen. Und zwar zu Recht. Die Deutschen, die ja jetzt schon Zahlmeister der Union sind, fürchten nicht ohne Grund, dass sie dann via Transfers (ohne die ein gemeinsamer Wirtschaftsraum allerdings nicht auskommt) noch stärker als bisher das flotte Treiben des „Club Med“finanzieren müssen, ohne dabei viel mitreden zu können. Vor allem auf EU-Ebene, wo sich das Kräfteverhältnis nach dem Austritt Großbritanniens ja dramatisch vom ehemaligen Hartwährungsblock weg verschiebt.
Wir sehen: EU und Eurozone brauchen dringend Reformen. Vom wirtschaftlichen Standpunkt her wäre das eine Annäherung in Richtung politischer Union mit gemeinsamer Finanz- und Außenpolitik.
Das geht in Europa wegen des Widerstands weiter Bevölkerungskreise aber nicht. Hier ist in der Realität eher der Wunsch nach vorsichtiger Renationalisierung mit Rückholung diverser Kompetenzen zu beobachten. Auch damit kann eine Union und eine gemeinsame Währung funktionieren. Allerdings braucht es dafür eine Reihe von Voraussetzungen.
Die wichtigste davon: Mit den Kompetenzen muss auch die Verantwortung behutsam renationalisiert werden. Zum Beispiel durch eine Wiederbelebung der No-Bailout-Klausel, die an der Wiege des europäischen Wirtschaftsraums und der Eurozone stand, die aber durch die diversen Rettungsaktionen im Gefolge der GriechenlandKrise und durch den europäischen Stabilitätsmechanismus ESM ex- trem eingeschränkt wurde.
Stabilitätssünder, die Reformfaulheit durch immer neue, höhere Staatsschulden zudecken, würden dann die Suppe allein auslöffeln müssen. Bitter, aber offenbar stabilisierender, wie das Beispiel USA mit seinen zahlreichen Gebietskörperschaftsinsolvenzen zeigt. Dort wird derzeit gerade Puerto Rico, Teil (wenn auch nicht Bundesstaat) der Vereinigten Staaten und der Dollarzone, per 70-Milliarden-Staatsinsolvenz zu „Puerto Pobre“– und niemand spricht, wie beispielsweise im Fall Griechenlands, monatelang vom Auseinanderbrechen des Dollars.
Stärkere finanzielle Verantwortung für einzelne Mitglieder, Abbau der Staatsschulden und der Target-Ungleichgewichte, bessere Abstimmung in der Wirtschaftspolitik – so können Europa und der Euro durchaus auch in weniger zentralstaatlichen Strukturen existieren. So wie es jetzt läuft, da hat Macron zweifellos recht, wird es aber nicht klappen. Hoffentlich nutzen die Euroländer die Chance, die sich da möglicherweise am kommenden Sonntag auftut.