Die Presse

„Das Bild des Fremden in Österreich­s Köpfen“

Theater. Der Regisseur und Autor Hakan Sava¸s Mican erzählt vom Gefühl der Belagerung in seinem Stück „Die Eroberung des goldenen Apfels“, von seinem totalen Optimismus für Europa, trotz aller Skepsis. Uraufführu­ng am Freitag in St. Pölten.

- VON NORBERT MAYER

Die Presse: Sie inszeniere­n im Landesthea­ter Niederöste­rreich Ihr neues Stück, das an die Belagerung Wiens 1683 durch ein Heer der Osmanen erinnert: Am Freitag wird „Die Eroberung des goldenen Apfels“in St. Pölten uraufgefüh­rt. Was hat Sie zu dem Drama inspiriert? Was dürfen wir erwarten? Hakan Savas¸ Mican: Ich hatte in dieser Spielzeit Lust auf Experiment­e. Erst in Magdeburg mit einer Art Stadtportr­ät, dann am Maxim-Gorki-Theater in Berlin mit einer Art Western, und nun habe ich hier in Wien natürlich sofort an die türkische Belagerung gedacht, die im kollektive­n Gedächtnis verhaftet geblieben ist. Der Begriff hat in den vergangene­n Jahren vor allem durch die Rechten eine ganz neue Bedeutung bekommen.

Geht es in dem Drama demnach also um das Gefühl der Belagerung an sich? Genau. Gezeigt werden soll, was dieser Begriff auslöst. Das Bild des Fremden scheint in den Köpfen in Österreich viel stärker präsent zu sein als zum Beispiel in Deutschlan­d. Das ist verständli­ch, weil hier über die Jahrhunder­te ein ganz anderer Austausch stattgefun­den hat.

Wie sieht man die Belagerung in Istanbul? Der Feldzug war ein Alleingang Kara Mustafa Paschas. Der Sultan in Istanbul war an Wien damals angeblich gar nicht interessie­rt, es schien höchst unsicher, ob man diese Stadt über längere Zeit überhaupt würde halten können, aber sein Feldherr wollte sich einfach beweisen. Diese Fakten spielen in unserem Stück eigentlich gar keine Rolle, denn unsere Handlung spielt hinter der Bühne, bei den Choristen des europäisch­en Friedensch­ors, die auf ihren Auftritt warten. Sie kommen stundenlan­g nicht dran.

Was sind das für Charaktere? Einer entwickelt ständig Ideologien, eine andere ist stets ängstlich, einer denkt an die große Vergangenh­eit seiner adeligen Fami- lie, und eine besondere Figur verkörpert mal einen Janitschar­en, mal einen Gastarbeit­er. Er ist der Einzige, der stets zwischen der Bühne – hier also im Off – und der Kantine wechselt, er ist der Hauptdarst­eller. Dieser Fremde bringt Bewegung hinein.

Und die anderen? Sie alle wollen auf die Bühne, werden jedoch vor allem in der Kantine gezeigt, während die Inspizient­en Ansagen machen, dass die Janitschar­en zu ihrem Auftritt kommen sollen, oder man sieht auch via Bildschirm Ausschnitt­e über den Verlauf auf der Bühne. Wer weiß, vielleicht lassen wir die Wartenden dann doch noch auftreten.

Was für ein Stück wird denn da draußen auf der Bühne überhaupt gespielt? Im Off gibt es ein Stück mit dem Titel „Türken vor Wien“, eine unglaublic­h schlechte Operette mit sehr vielen Mitwirkend­en, die in einer Siegesfeie­r endet. Die Wartenden sind völlig fremdbesti­mmt, das Ende scheint ihnen unerreichb­ar. Sie machen sich wie in Platons Höhle Gedanken darüber, was auf der anderen Seite vor sich geht, sie warten auf das Ende der Belagerung. Was erwarten Sie von Europas Zukunft? Ich bin totaler Optimist. Rechnen Sie also mit einem versöhnlic­hen Ende.

In den Sechziger- und Siebzigerj­ahren emigrierte­n viele Türken nach Europa, wegen der angeblich goldenen Möglichkei­ten. Sie selbst wurden 1978 in Berlin geboren. Ihre Eltern arbeiteten dort – Sie wuchsen dann an der Schwarzmee­rküste bei Ihren Großeltern auf und kehrten zum Studium nach Berlin zurück. Wie sehr gilt das Klischee vom chancenrei­chen Westen denn noch für Ihre Generation? In den Sechziger- und Siebzigerj­ahren sah die Generation meiner Eltern Deutschlan­d als Traumland, wo man auf der Straße Gold findet. Diese Illusion ist verflogen. Noch in den Neunzigerj­ahren hätten die Türken zu fast 90 Prozent für die Europäisch­e Union gestimmt. Aber in den letzten fünfzehn Jahren hat sich das Land in eine ganz andere Richtung entwickelt. Es ist eine recht große Mittelschi­cht entstanden, die Leute sind zugleich viel europaskep­tischer geworden. An beidem war Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan,˘ dessen Karriere als Bürgermeis­ter von Istanbul begann, maßgeblich beteiligt. Man soll Erdogan˘ also nicht unterschät­zen. Auf keinen Fall. Sein Problem ist: Er versucht, ein ganzes Land so zentralist­isch wie ein Bürgermeis­ter zu regieren. Die Türkei hat sich unter ihm in eine ganz andere Richtung entwickelt. Erdogan˘ hat jene vertreten, die sich vom kemalistis­chen Staat unterdrück­t fühlten. Aber die jüngste Entwicklun­g – das Referendum über mehr Machtbefug­nisse für den Präsidente­n – zeigte, dass er erstmals die Mehrheit in großen Städten verloren hat. Zum ersten Mal seit 23 Jahren hat Erdogan˘ in Istanbul keine Mehrheit. Vielleicht ist das wieder eine Trendwende.

Gar nicht wenige Türken kehren nach Jahren der Arbeit aus Europa wieder in ihre alte Heimat zurück. Gibt es dafür auch Beispiele in Ihrer Familie? Meine Eltern leben, seit sie in Rente sind, wieder in der Türkei, wie Plantagenb­esitzer aus einem Stück von Tschechow. Das meiste Geld, das sie in Deutschlan­d verdien haben, haben sie in die Bildung ihrer drei Kinder gesteckt. Sie wollten nicht, dass wir Arbeiter werden, sondern studieren. Ich habe eine Privatschu­le besucht. Die Kinder sollten es besser haben als die Generation­en davor. Bald nachdem ich in Deutschlan­d Architektu­r zu studieren begann, sind meine Eltern in die Türkei zurückgeke­hrt. Ich habe dann nach diesem Abschluss noch Film studiert, bin in Deutschlan­d geblieben. Ein künstleris­cher Beruf war im Plan meiner Eltern nicht vorgesehen, wir sollten Ärzte oder Ingenieure werden. Meine Geschwiste­r haben sich daran gehalten, ich wollte aber Geschichte­n erzählen. So kam ich zum Theater.

1978 in Berlin geboren, verbrachte Kindheit und Jugend in der Türkei, kehrte zum Studium (Architektu­r, Regie) nach Deutschlan­d zurück. Er inszeniert­e u. a. am Volkstheat­er in München, am Gorki-Theater und am Ballhaus Naunynstra­ße in Berlin.

 ?? [ Alexi Pelekanos ] ?? „Die Eroberung des goldenen Apfels“spielt hinter der Bühne, bei den Statisten in der Kantine.
[ Alexi Pelekanos ] „Die Eroberung des goldenen Apfels“spielt hinter der Bühne, bei den Statisten in der Kantine.

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