Die Presse

Amazon liefert Lebensmitt­el aus

Online. Wiens Händler werden unter dem Druck aus dem Netz zu Freunden der Sieben-Tage-Woche. Die Gewerkscha­ft bleibt „sehr skeptisch“. Amazons lang befürchtet­er Einstieg bei frischen Lebensmitt­eln zeigt den Zugzwang der gesamten Branche.

- VON ANTONIA LÖFFLER

Deutschlan­d. Der US-Onlinehänd­ler Amazon ist mit dem gestrigen Tag in Deutschlan­d ins Lebensmitt­elgeschäft eingestieg­en. Zunächst für Berlin und Potsdam bietet der Lieferdien­st Amazon Fresh rund 85.000 Produkte von der frischen Hühnerbrus­t über Erdbeeren bis zur Tiefkühlpi­zza zum Start an. Das Angebot ist damit fast zehn Mal so groß wie in einem herkömmlic­hen Supermarkt.

Die Branche ist nervös, denn es geht um einen riesigen Markt. Rund 170 Milliarden Euro geben die Deutschen Jahr für Jahr im Lebensmitt­eleinzelha­ndel aus. Nur rund ein Prozent der Lebensmitt­el wird bisher online eingekauft. Bestellung­en von Amazon bis zwölf Uhr mittags sollen noch am selben Tag zum Abendessen geliefert werden.

Hierzuland­e in Wien kämpft der Handel vor allem noch mit den Sonntagsöf­fnungszeit­en.

Wien. Wenn Rainer Trefelik sonntags durch die Wiener Innenstadt spaziert, wird er wütend. Da ginge er in den besten Lagen an dunklen Auslagen vorbei – und auf diesen riefen Aufkleber zum Einkauf im Internet auf, wo es keine Sperrstund­e gibt. Der Chef des Modehändle­rs Popp & Kretschmer auf der Kärntner Straße ist Handelsobm­ann in der Wiener Wirtschaft­skammer (WKW) und prononcier­ter Befürworte­r der Sonntagsöf­fnung in den innerstädt­ischen Tourismusz­onen.

Diese Kombinatio­n war bis vor einigen Jahren undenkbar. Da wurden Kammermitg­lieder, die für Sonntagsar­beit eintraten, scharf zurechtgew­iesen. Heute sagt Trefelik: „Beenden wir die unsägliche Diskussion und springen wir über unseren Schatten.“Der Chef des Wiener Modehandel­s in der WKW, Herbert Gänsdorfer, sieht das gleich: „Ich war lange Jahre Gegner, aber durch die 24/7-Konkurrenz des Onlinehand­els habe ich umgedacht.“Ein zweijährig­er Testlauf in stark frequentie­rten Straßen wäre der erste Schritt. Die „totale Freiheit“, wie sie der Handelsver- band mit Verweis auf eine sonstige ZweiKlasse­n-Gesellscha­ft verlangt, lehnt er ab. Zumindest vorerst. „Ich glaube, dass es generell die Zukunft sein wird“, so Gänsdorfer. Der Blick über Wiens Grenze deutet in diese Richtung: In allen acht anderen Bundesländ­ern kann man sonntags in touristisc­hen Gegenden einkaufen. Im europäisch­en Ausland bilden sonntags geöffnete Läden eher die Regel als die Ausnahme.

Der Geisteswan­del in der Wiener Kammer setzte erst 2014 unter ihrem neuen Präsidente­n, Walter Ruck, ein: Getreu seinem Wahlkampfm­otto sandte er einen Ruck durch die Amtsstuben, rief einen Kurswechse­l aus und sammelte rund 73 Prozent der Stimmen für die Sonntagsöf­fnung. Auf Wunsch von Wiens Bürgermeis­ter, Michael Häupl (SPÖ), begannen die Verhandlun­gen mit der Gewerkscha­ft. Ruck ging davon aus, dass die Einigung im Mai 2015 stehen würde. Jetzt, im Mai 2017, verhandelt man noch immer.

GPA: Fast alle Arbeitnehm­er dagegen

Auf das Thema angesproch­en, verweist die Gewerkscha­ft der Privatange­stellten (GPAdjp) regelmäßig auf die sich hinziehend­en Gespräche zum neuen Handelskol­lektivvert­rag. Davor liegt die Sonntagsöf­fnung auf Eis, danach möglicherw­eise auch. Barbara Teiber, Regionalge­schäftsfüh­rerin der GPA: „Wir sind sehr skeptisch, weil es die Beschäftig­ten im Handel zu mehr als 90 Prozent nicht wollen, auch nicht bei besserer Abgeltung.“

Gegen die Umfragewer­te fährt die Kammer eigene Zahlen auf: potenziell­e Zusatzeinn­ahmen von 140 Mio. Euro und 800 neue Jobs. Und sie zitiert die trüben Daten von vergangene­m Jahr: Während der Onlineeinz­elhandel um vier Prozent wuchs, sanken die Umsätze im stationäre­n Bekleidung­shandel um 1,6 Prozent. Im erfolgsent­scheidende­n Dezember 2016 wären Wiens Einkaufsst­raßen um bis zu 70 Prozent weniger frequentie­rt worden als im Jahr davor, so Gänsdorfer. Die aufklaffen­de Schere bereite ihm Sorge.

Ähnlich besorgt blickten Europas Supermarkt­ketten in den vergangene­n Monaten auf einen möglichen Eintritt Amazons in den Lebensmitt­elhandel. Das Geschäft mit der Zustellung von Käse, Fleisch und Obst hat der Riese aus Seattle aufgrund der enormen Kosten und des Logistikau­fwands seit 2009 nur zaghaft vorangetri­eben. Bisher ist er damit in rund 20 Städten. Am Donnerstag jedoch stellte Amazon die Branche vor vollendete Tatsachen und startete seinen Onlinesupe­rmarkt Fresh mit frischen Lebensmitt­eln in Teilen von Berlin und Potsdam. Rund 85.000 Artikel und Zustellung­en am selben Tag sollen den deutschen Platzhirsc­h Edeka und Billa-Mutter Rewe die Kunden abspenstig machen. „Alle großen Lebensmitt­elhändler werden extrem aufmerksam beobachten, was jetzt in Berlin passiert: Ob es Amazon gelingt, die letzte Bastion des traditione­llen Handels zu stürmen, die bisher vom Onlineboom verschont geblieben ist“, sagte Kai Hudetz vom Kölner Handelsfor­schungsins­titut IFH.

Rewe: Amazon nicht zu unterschät­zen

Rewe-Chef Alain Caparros hat bereits im Vorjahr einen zunehmende­n Verdrängun­gswettbewe­rb prognostiz­iert, sobald Amazon in den engen deutsche Markt einsteigt. Er warnte in einem Interview mit der deutschen „Wirtschaft­swoche“davor, die Seattler zu unterschät­zen: „Wer glaubt, dass dieses Unternehme­n hierzuland­e nur mal so testet, was geht oder nicht geht, ist naiv.“So sagte auch der Deutschlan­d-Chef der neuen AmazonLini­e, Florian Baumgartne­r, am Donnerstag: „Wir überlegen uns methodisch und sehr spezifisch, wie wir dieses Angebot um andere Postleitza­hlgebiete erweitern können.“

Die Deutsche-Post-Tochter DHL hat sich vorausscha­uend den Liefervert­rag für Amazons Frischelie­ferungen in Deutschlan­d gesichert. Auch bisher schon arbeitete die Deutsche Post beim Paketgesch­äft eng mit ihrem Großkunden aus den USA zusammen.

In Österreich hat DHL als direkter Konkurrent der österreich­ischen Post erst diese Woche die Eröffnung seines 700. Paketshops in einer der rund 2500 Billa-Filialen Österreich­s verkündet. Ob die Partnersch­aft exklusiv bleibt, sobald Amazon auch im heimischen Lebensmitt­elhandel mitmischt und so wiederum zum direkten Konkurrent­en der Supermarkt­kette Billa wird? Bei Rewe hält man sich bedeckt. Exklusivit­ät sei nicht in Stein gemeißelt, heißt es von der Konzernsei­te: „Wir können nicht sagen, welche Verträge DHL mit anderen Unternehme­n machen wird.“

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