Amazon liefert Lebensmittel aus
Online. Wiens Händler werden unter dem Druck aus dem Netz zu Freunden der Sieben-Tage-Woche. Die Gewerkschaft bleibt „sehr skeptisch“. Amazons lang befürchteter Einstieg bei frischen Lebensmitteln zeigt den Zugzwang der gesamten Branche.
Deutschland. Der US-Onlinehändler Amazon ist mit dem gestrigen Tag in Deutschland ins Lebensmittelgeschäft eingestiegen. Zunächst für Berlin und Potsdam bietet der Lieferdienst Amazon Fresh rund 85.000 Produkte von der frischen Hühnerbrust über Erdbeeren bis zur Tiefkühlpizza zum Start an. Das Angebot ist damit fast zehn Mal so groß wie in einem herkömmlichen Supermarkt.
Die Branche ist nervös, denn es geht um einen riesigen Markt. Rund 170 Milliarden Euro geben die Deutschen Jahr für Jahr im Lebensmitteleinzelhandel aus. Nur rund ein Prozent der Lebensmittel wird bisher online eingekauft. Bestellungen von Amazon bis zwölf Uhr mittags sollen noch am selben Tag zum Abendessen geliefert werden.
Hierzulande in Wien kämpft der Handel vor allem noch mit den Sonntagsöffnungszeiten.
Wien. Wenn Rainer Trefelik sonntags durch die Wiener Innenstadt spaziert, wird er wütend. Da ginge er in den besten Lagen an dunklen Auslagen vorbei – und auf diesen riefen Aufkleber zum Einkauf im Internet auf, wo es keine Sperrstunde gibt. Der Chef des Modehändlers Popp & Kretschmer auf der Kärntner Straße ist Handelsobmann in der Wiener Wirtschaftskammer (WKW) und prononcierter Befürworter der Sonntagsöffnung in den innerstädtischen Tourismuszonen.
Diese Kombination war bis vor einigen Jahren undenkbar. Da wurden Kammermitglieder, die für Sonntagsarbeit eintraten, scharf zurechtgewiesen. Heute sagt Trefelik: „Beenden wir die unsägliche Diskussion und springen wir über unseren Schatten.“Der Chef des Wiener Modehandels in der WKW, Herbert Gänsdorfer, sieht das gleich: „Ich war lange Jahre Gegner, aber durch die 24/7-Konkurrenz des Onlinehandels habe ich umgedacht.“Ein zweijähriger Testlauf in stark frequentierten Straßen wäre der erste Schritt. Die „totale Freiheit“, wie sie der Handelsver- band mit Verweis auf eine sonstige ZweiKlassen-Gesellschaft verlangt, lehnt er ab. Zumindest vorerst. „Ich glaube, dass es generell die Zukunft sein wird“, so Gänsdorfer. Der Blick über Wiens Grenze deutet in diese Richtung: In allen acht anderen Bundesländern kann man sonntags in touristischen Gegenden einkaufen. Im europäischen Ausland bilden sonntags geöffnete Läden eher die Regel als die Ausnahme.
Der Geisteswandel in der Wiener Kammer setzte erst 2014 unter ihrem neuen Präsidenten, Walter Ruck, ein: Getreu seinem Wahlkampfmotto sandte er einen Ruck durch die Amtsstuben, rief einen Kurswechsel aus und sammelte rund 73 Prozent der Stimmen für die Sonntagsöffnung. Auf Wunsch von Wiens Bürgermeister, Michael Häupl (SPÖ), begannen die Verhandlungen mit der Gewerkschaft. Ruck ging davon aus, dass die Einigung im Mai 2015 stehen würde. Jetzt, im Mai 2017, verhandelt man noch immer.
GPA: Fast alle Arbeitnehmer dagegen
Auf das Thema angesprochen, verweist die Gewerkschaft der Privatangestellten (GPAdjp) regelmäßig auf die sich hinziehenden Gespräche zum neuen Handelskollektivvertrag. Davor liegt die Sonntagsöffnung auf Eis, danach möglicherweise auch. Barbara Teiber, Regionalgeschäftsführerin der GPA: „Wir sind sehr skeptisch, weil es die Beschäftigten im Handel zu mehr als 90 Prozent nicht wollen, auch nicht bei besserer Abgeltung.“
Gegen die Umfragewerte fährt die Kammer eigene Zahlen auf: potenzielle Zusatzeinnahmen von 140 Mio. Euro und 800 neue Jobs. Und sie zitiert die trüben Daten von vergangenem Jahr: Während der Onlineeinzelhandel um vier Prozent wuchs, sanken die Umsätze im stationären Bekleidungshandel um 1,6 Prozent. Im erfolgsentscheidenden Dezember 2016 wären Wiens Einkaufsstraßen um bis zu 70 Prozent weniger frequentiert worden als im Jahr davor, so Gänsdorfer. Die aufklaffende Schere bereite ihm Sorge.
Ähnlich besorgt blickten Europas Supermarktketten in den vergangenen Monaten auf einen möglichen Eintritt Amazons in den Lebensmittelhandel. Das Geschäft mit der Zustellung von Käse, Fleisch und Obst hat der Riese aus Seattle aufgrund der enormen Kosten und des Logistikaufwands seit 2009 nur zaghaft vorangetrieben. Bisher ist er damit in rund 20 Städten. Am Donnerstag jedoch stellte Amazon die Branche vor vollendete Tatsachen und startete seinen Onlinesupermarkt Fresh mit frischen Lebensmitteln in Teilen von Berlin und Potsdam. Rund 85.000 Artikel und Zustellungen am selben Tag sollen den deutschen Platzhirsch Edeka und Billa-Mutter Rewe die Kunden abspenstig machen. „Alle großen Lebensmittelhändler werden extrem aufmerksam beobachten, was jetzt in Berlin passiert: Ob es Amazon gelingt, die letzte Bastion des traditionellen Handels zu stürmen, die bisher vom Onlineboom verschont geblieben ist“, sagte Kai Hudetz vom Kölner Handelsforschungsinstitut IFH.
Rewe: Amazon nicht zu unterschätzen
Rewe-Chef Alain Caparros hat bereits im Vorjahr einen zunehmenden Verdrängungswettbewerb prognostiziert, sobald Amazon in den engen deutsche Markt einsteigt. Er warnte in einem Interview mit der deutschen „Wirtschaftswoche“davor, die Seattler zu unterschätzen: „Wer glaubt, dass dieses Unternehmen hierzulande nur mal so testet, was geht oder nicht geht, ist naiv.“So sagte auch der Deutschland-Chef der neuen AmazonLinie, Florian Baumgartner, am Donnerstag: „Wir überlegen uns methodisch und sehr spezifisch, wie wir dieses Angebot um andere Postleitzahlgebiete erweitern können.“
Die Deutsche-Post-Tochter DHL hat sich vorausschauend den Liefervertrag für Amazons Frischelieferungen in Deutschland gesichert. Auch bisher schon arbeitete die Deutsche Post beim Paketgeschäft eng mit ihrem Großkunden aus den USA zusammen.
In Österreich hat DHL als direkter Konkurrent der österreichischen Post erst diese Woche die Eröffnung seines 700. Paketshops in einer der rund 2500 Billa-Filialen Österreichs verkündet. Ob die Partnerschaft exklusiv bleibt, sobald Amazon auch im heimischen Lebensmittelhandel mitmischt und so wiederum zum direkten Konkurrenten der Supermarktkette Billa wird? Bei Rewe hält man sich bedeckt. Exklusivität sei nicht in Stein gemeißelt, heißt es von der Konzernseite: „Wir können nicht sagen, welche Verträge DHL mit anderen Unternehmen machen wird.“