„In Heimen herrscht extreme Trostlosigkeit“
Pflege. Zu wenig Essen für kranke Bewohner, totale Einsamkeit und Hilfskräfte, die nicht genug Deutsch sprechen, um mit ihren Patienten zu kommunizieren. Ein Tiroler Pfleger erzählt, warum der Bericht der Volksanwaltschaft noch harmlos ist.
Wien. Nach dem Bericht der Volksanwaltschaft über unzumutbare, teilweise skandalöse Zustände in österreichischen Altenund Pflegeheimen legt nun ein Tiroler Pfleger nach und spricht von „systematischen Vernachlässigungen von Bewohnern“in vielen Einrichtungen im ganzen Land. Die Situation in manchen Heimen sei noch viel dramatischer, die hygienischen Missstände seien schlimmer als von der Volksanwaltschaft beschrieben.,
„Das Hauptproblem ist die ständige Überforderung der Pflegekräfte durch Personalmangel und schlecht ausgebildete Führungskräfte, die ihre Mitarbeiter nicht effizient einsetzen“, sagt der 55-jährige Diplomkrankenpfleger (Name der Redaktion bekannt), der in einem der größeren Wohnheime in Innsbruck arbeitet. Er war schon in mehreren Einrichtungen in Tirol tätig und weiß, wie er sagt, „um den krassen Pflegenotstand“in vielen privaten oder städtischen Alten- und Pflegeheimen.
Bewohner schlafen hungrig ein
So sei eines der größten Probleme, dass Bewohner, die nicht selbstständig essen können, „regelmäßig wenig oder gar nichts zu essen bekommen“, weil die Pfleger keine Zeit hätten, um sie ausreichend zu ernähren. „Schwer demente Menschen zu füttern dauert oft eine halbe Stunde, viele haben dafür einfach keine Kapazitäten mehr“, sagt er. Beschwerden seien selten, da sich die betroffenen Bewohner kaum artikulieren könnten. Und gelingt ihnen das doch, würden sie von den Ärzten oft mit sedierenden Medikamenten ruhiggestellt.
„Ich habe es dann immer so gemacht, dass ich unbezahlte Überstunden leistete, um meine Bewohner anständig zu ernähren“, erzählt der Pfleger. „Das machen viele, die es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, dass die ihnen anvertrauten Menschen hungrig einschlafen müssen. Denn bezahlt werden die Überstunden nie.“Andere wiederum würden „abstumpfen“und sich mit der Vernachlässigung der Bewohner abfinden. Anders sei nicht zu erklären, dass bettlägrige Menschen stundenlang in Kot und Urin liegen müssen, weil sich niemand für sie zuständig fühlt.
Ein weiteres gravierendes Problem sei die „extreme Trostlosigkeit“– selbst in gut geführten Heimen. Durch den permanenten Zeitdruck könne sich das Personal nicht angemessen um die Bewohner kümmern. „Jemanden menschlich zu behandeln heißt nicht nur, ihn zu füttern und zu reinigen“, betont der Innsbrucker. „Viele Heimbewohner haben niemanden zu sprechen und leiden an totaler Einsamkeit.“
Hilfskräfte, die kein Deutsch sprechen
Der 55-Jährige beklagt auch die „permanenten Kompetenzüberschreitungen“in den Heimen. Ungelernte Hilfskräfte würden ständig für „hoch spezifische Pflegedienste herangezogen, obwohl die gesetzlichen Regelungen dies nicht erlauben“. So dürften Mitarbeiter ohne jegliche Ausbildung („von denen jede Menge zum Einsatz kommen“) eigentlich keinen Blutzucker messen, Augentropfen verabreichen oder Verbände wechseln, würden das aber über Jahre hinweg tun. Er selbst habe das bei der Heimleitung mehrfach angesprochen, habe aber „nie eine Antwort bekommen“.
Viele dieser ungelernten Hilfskräfte würden zudem über keinerlei Deutschkenntnis- se verfügen, sodass sie nicht einmal herausfinden könnten, ob ihre Patienten Schmerzen haben. Und selbst wenn ihnen auffalle, dass die Bewohner auf sich aufmerksam machen wollen, könnten sie diese Informationen oft nicht an ihre Vorgesetzten weiterleiten. „So kommt es immer wieder vor, dass Menschen stundenlang Schmerzen haben, ohne behandelt zu werden.“
Land Tirol kündigt Kontrolle an
Angesichts solcher Schilderungen und des Berichts der Volksanwaltschaft kündigte Tirols Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg (ÖVP) am Freitag eine „umfassende Kontrolle“der in Tirol festgestellten Fälle bzw. Missstände an. Man nehme den Pflegebericht der Volksanwaltschaft „sehr ernst“. Er sei an voller Aufklärung interessiert, das schulde man den Bewohnern der Heime in Tirol sowie ihren Angehörigen. „Mit der Unterstützung von Fachleuten werden wir die kritisierten Sachverhalte analysieren und so rasch wie möglich Verbesserungen umsetzen“, sagt Tilg. Gleichzeitig dürfe der Bericht der Volksanwaltschaft nicht als pauschale Kritik an der Arbeit der Pflegekräfte in den Tiroler Heimen gesehen werden. „Der überwiegende Anteil unserer Pflegekräfte sind fleißige und tüchtige Menschen, die mit viel Einfühlungsvermögen und Verantwortungsgefühl täglich am Werk sind.“
Tirol setze seit 2012 den bis 2022 laufenden Pflegeplan um. Damit auch die Qualität der Pflege steigt, habe man eine Ausbildungsoffensive eingeleitet. Mit dem Pflegeplan schaffe man nicht nur mehr Heimplätze, sondern auch mehr Plätze in der mobilen Pflege oder im betreuten Wohnen. Tilg: „Nicht zuletzt deshalb ist eine Ausbildungsoffensive in der Pflege vonnöten. Allein im Zeitraum von 2012 bis 2017 arbeiten zusätzliche 1000 Personen in der Pflege, bis 2022 folgen weitere 1000 Pflegekräfte.“