Die Dynamik des Seelentheaters
Staatsoper. Die starken und die leisen Töne schüren Emotionen, ob in „Tosca“mit dem Dreamteam Gheorghiu/Kaufmann oder in „Eugen Onegin“mit vielen Ensemblekräften.
Was „Oper 4.0“sein soll, wissen Wiens Opernfreunde immer noch nicht, obwohl der Minister – ohne selbst eine Definition geben zu können – dekretierte, man brauche eine „Neuorientierung“unter diesem Motto. Indes demonstriert das Haus am Ring in klassischer Manier (wahrscheinlich nennt man das „Oper 1.0“), was es kann. Und das ist enorm.
Mitten in einem der beiden Durchläufe von Wagners „Ring des Nibelungen“(diesen stemmt man in dieser Saison als einziges Haus der Welt und sozusagen nebenbei!) gibt es Startheater – und überdies noch den Beweis, dass man den Olymp auch in kluger Aufbauarbeit erobern kann: Während in „Tosca“Angela Gheorghiu und Jonas Kaufmann ihren Lieblingskrimi aufs Neue zelebrieren, beweisen in „Eugen Onegin“zwei Damen aus dem Staatsopernensemble, dass sie an der Seite zweier international renommierter Herren Tschaikowskys Seelendrama berührend gestalten können.
Und wohltönend! Der sonore, bis in die Tiefe satt timbrierte Alt der Ilseyar Khayrullova scheint für die kokette Olga wie geschaffen. Und Olga Bezsmertnas jugendlich heller Sopran scheint ideal für die intimen, verhaltenen Botschaften der Tatjana: Der Komponist lässt sie, ganz in Puschkins Diensten, erst ganz zuletzt mit dem angebeteten Onegin in einen intensiven Dialog treten: in dem Moment, in dem sie ihn von sich stoßen muss. Zuvor ist alles Introversion, Introspektion: Was das Publikum hört, spricht das Mädchen zu sich selbst, träumt es in sich hinein – und die Bezsmertna verwandelt die Unsicherheiten und Zögerlichkeiten, die aufregenden Hoffnungen und Ahnungen der Teenagerseele in Töne und Phrasen, zerbrechlich zart oft, wie selbstvergessen blühend – nur das nach oben offene, sängerfeindliche Bühnenbild der zauberlos nüchternen Falk-Richter-Inszenierung wirkt als akustischer Blitzableiter; davon singt auch Pavol Bresliks Lenski mehrere Lieder. Sein Tenor, beweglich, hell und eloquent, könnte sich bei freundlicher Reflexion – sagen wir durch die eine oder anderen Efeuwand, kräftiger im Auditorium entfalten.
Doch passt Verhaltenheit gut zu Tschaikowskys populärstem Musiktheaterwerk, dessen Gattungsbezeichnung ja ausdrücklich „lyrische Szenen“und nicht Oper heißt. Diese „Lyrik“wird durch Christopher Maltmans Onegin – völlig rollendeckend – mittels rüder Einbrüche gestört. Enorm, wie er im dritten Akt, überwältigt von den eigenen, ungeahnten Gefühlen, sich aus der Rolle des gelangweilten Zynikers in die des reumütigen Verehrers von Tatjanas Schönheit katapultieren lässt – und von dort in jähem Fall wieder auf den Bühnenboden zurückgeschleudert wird. Das Staatsopernorchester unter Patrick Langes souveräner Führung zermalmt seine Hoffnungen dann mit wenigen wohlgezielten Akkordstößen.
Es putscht unter der Leitung des umsichtigen Debütanten Eivind Gullberg Jensen auch die Puccini-Klänge auf, wenn Jonas Kaufmann und Angela Gheorghiu mit dem skrupellosen Baron Scarpia des Marco Vratogna aneinandergeraten.
Strahlende Eruptionen
Stehen solche Namen auf dem Programmzettel, schrauben sich die Erwartungen des Publikums in höchste Höhen – und werden nicht enttäuscht. Vratognas Scarpia ist in seiner in sich ruhenden, noch in der äußersten Brutalität völlig beherrschten Selbstverliebtheit vermutlich der einzige Mensch im Saal, den die Leidenschaften der Diva und des Tenors nicht überwältigen
Im ersten Akt blieb der Polizeichef diesmal ohnehin der unangefochtene Wortführer, denn Gheorghiu und Kaufmann ließen es bei – allerdings imposanten – dramatischen Attacken bewenden. Doch im Mittelakt entfaltete Floria Tosca ihr enormes Potenzial – angesichts der Infamie Scarpias schleuderte sie exaltierte Spitzentöne heraus, scheinbar ohne Rücksicht auf Schöngesang, und doch: Das „Gebet“wurde zur Oase des Wohlklangs, im Wechselspiel mit den philharmonischen Zurufen aus dem Orchestergraben intensiv gesteigert. Der Primadonnenkunst setzte Kaufmann strahlende Eruptionen seines baritonal Tenors entgegen, aber auch gehauchte, doch stets konsistente Piani. Auf sie warten die Verehrer und toben nach der „Sternenarie“vier Minuten lang. Dennoch keine Zugabe, diesmal . . .
Applaus auch für die kleinen Partien, die alle (das gehört zur „Oper 1.0“) liebevoll besetzt sind – bis zu exquisiten Neuzugängen im „Onegin“: der nobel phrasierende Fürst Germin von Mika Kares, Janina Baechles Filipjewna und Thomas Ebensteins Monsieur Triquet. „Tosca“ist übrigens heute, Montag, im Livestream zu erleben.