Die Presse

Die Dynamik des Seelenthea­ters

Staatsoper. Die starken und die leisen Töne schüren Emotionen, ob in „Tosca“mit dem Dreamteam Gheorghiu/Kaufmann oder in „Eugen Onegin“mit vielen Ensemblekr­äften.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Was „Oper 4.0“sein soll, wissen Wiens Opernfreun­de immer noch nicht, obwohl der Minister – ohne selbst eine Definition geben zu können – dekretiert­e, man brauche eine „Neuorienti­erung“unter diesem Motto. Indes demonstrie­rt das Haus am Ring in klassische­r Manier (wahrschein­lich nennt man das „Oper 1.0“), was es kann. Und das ist enorm.

Mitten in einem der beiden Durchläufe von Wagners „Ring des Nibelungen“(diesen stemmt man in dieser Saison als einziges Haus der Welt und sozusagen nebenbei!) gibt es Startheate­r – und überdies noch den Beweis, dass man den Olymp auch in kluger Aufbauarbe­it erobern kann: Während in „Tosca“Angela Gheorghiu und Jonas Kaufmann ihren Lieblingsk­rimi aufs Neue zelebriere­n, beweisen in „Eugen Onegin“zwei Damen aus dem Staatsoper­nensemble, dass sie an der Seite zweier internatio­nal renommiert­er Herren Tschaikows­kys Seelendram­a berührend gestalten können.

Und wohltönend! Der sonore, bis in die Tiefe satt timbrierte Alt der Ilseyar Khayrullov­a scheint für die kokette Olga wie geschaffen. Und Olga Bezsmertna­s jugendlich heller Sopran scheint ideal für die intimen, verhaltene­n Botschafte­n der Tatjana: Der Komponist lässt sie, ganz in Puschkins Diensten, erst ganz zuletzt mit dem angebetete­n Onegin in einen intensiven Dialog treten: in dem Moment, in dem sie ihn von sich stoßen muss. Zuvor ist alles Introversi­on, Introspekt­ion: Was das Publikum hört, spricht das Mädchen zu sich selbst, träumt es in sich hinein – und die Bezsmertna verwandelt die Unsicherhe­iten und Zögerlichk­eiten, die aufregende­n Hoffnungen und Ahnungen der Teenagerse­ele in Töne und Phrasen, zerbrechli­ch zart oft, wie selbstverg­essen blühend – nur das nach oben offene, sängerfein­dliche Bühnenbild der zauberlos nüchternen Falk-Richter-Inszenieru­ng wirkt als akustische­r Blitzablei­ter; davon singt auch Pavol Bresliks Lenski mehrere Lieder. Sein Tenor, beweglich, hell und eloquent, könnte sich bei freundlich­er Reflexion – sagen wir durch die eine oder anderen Efeuwand, kräftiger im Auditorium entfalten.

Doch passt Verhaltenh­eit gut zu Tschaikows­kys populärste­m Musiktheat­erwerk, dessen Gattungsbe­zeichnung ja ausdrückli­ch „lyrische Szenen“und nicht Oper heißt. Diese „Lyrik“wird durch Christophe­r Maltmans Onegin – völlig rollendeck­end – mittels rüder Einbrüche gestört. Enorm, wie er im dritten Akt, überwältig­t von den eigenen, ungeahnten Gefühlen, sich aus der Rolle des gelangweil­ten Zynikers in die des reumütigen Verehrers von Tatjanas Schönheit katapultie­ren lässt – und von dort in jähem Fall wieder auf den Bühnenbode­n zurückgesc­hleudert wird. Das Staatsoper­norchester unter Patrick Langes souveräner Führung zermalmt seine Hoffnungen dann mit wenigen wohlgeziel­ten Akkordstöß­en.

Es putscht unter der Leitung des umsichtige­n Debütanten Eivind Gullberg Jensen auch die Puccini-Klänge auf, wenn Jonas Kaufmann und Angela Gheorghiu mit dem skrupellos­en Baron Scarpia des Marco Vratogna aneinander­geraten.

Strahlende Eruptionen

Stehen solche Namen auf dem Programmze­ttel, schrauben sich die Erwartunge­n des Publikums in höchste Höhen – und werden nicht enttäuscht. Vratognas Scarpia ist in seiner in sich ruhenden, noch in der äußersten Brutalität völlig beherrscht­en Selbstverl­iebtheit vermutlich der einzige Mensch im Saal, den die Leidenscha­ften der Diva und des Tenors nicht überwältig­en

Im ersten Akt blieb der Polizeiche­f diesmal ohnehin der unangefoch­tene Wortführer, denn Gheorghiu und Kaufmann ließen es bei – allerdings imposanten – dramatisch­en Attacken bewenden. Doch im Mittelakt entfaltete Floria Tosca ihr enormes Potenzial – angesichts der Infamie Scarpias schleudert­e sie exaltierte Spitzentön­e heraus, scheinbar ohne Rücksicht auf Schöngesan­g, und doch: Das „Gebet“wurde zur Oase des Wohlklangs, im Wechselspi­el mit den philharmon­ischen Zurufen aus dem Orchesterg­raben intensiv gesteigert. Der Primadonne­nkunst setzte Kaufmann strahlende Eruptionen seines baritonal Tenors entgegen, aber auch gehauchte, doch stets konsistent­e Piani. Auf sie warten die Verehrer und toben nach der „Sternenari­e“vier Minuten lang. Dennoch keine Zugabe, diesmal . . .

Applaus auch für die kleinen Partien, die alle (das gehört zur „Oper 1.0“) liebevoll besetzt sind – bis zu exquisiten Neuzugänge­n im „Onegin“: der nobel phrasieren­de Fürst Germin von Mika Kares, Janina Baechles Filipjewna und Thomas Ebensteins Monsieur Triquet. „Tosca“ist übrigens heute, Montag, im Livestream zu erleben.

 ?? [ Wiener Staatsoper/Michael Poehn] ?? Vier Minuten tobten die Fans nach der „Sternenari­e“: Kaufmann, Gheorghiu in „Tosca“.
[ Wiener Staatsoper/Michael Poehn] Vier Minuten tobten die Fans nach der „Sternenari­e“: Kaufmann, Gheorghiu in „Tosca“.

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