Euro-Visionen zwischen Schuld und Sehnsucht
Filmschau. Das Filmmuseum lädt in seiner aktuellen Retrospektive – der letzten großen von Direktor Alexander Horwath – zum Streifzug durch ein vielgestaltiges Kino-Europa, dessen Grenzen immer wieder verschwimmen.
Für seine letzte große Retrospektive hat sich Alexander Horwath, der scheidende Direktor des Österreichischen Filmmuseums, Großes vorgenommen: Nichts weniger als „Europa erzählen“will die umfassende Schau, die bis 25. Juni im „Unsichtbaren Kino“läuft. Es handelt sich um eine Art Best-of: Das Programm besteht überwiegend aus Filmen, die im Zuge der 15-jährigen Intendanz Horwaths schon einmal (oder mehrfach) zu sehen waren. Die Besonderheit liegt in der thematischen Rahmung: Sie stellt den Versuch dar, dem europäischen Gedanken mithilfe des Kinos auf den Grund zu gehen – in einer Zeit, in der sich Europa als Wertegemeinschaft immer stärker infrage stellt.
Dabei geht es weniger um Grenzziehungen als um die Eröffnung neuer Perspektiven auf einen Kontinent ohne „Essenz“; nicht um die Ausstellung repräsentativer Meisterwerke europäischer Filmnationen, sondern um die Suche nach ideellen und ästhetischen Motiven, die Raum und Zeit überbrücken – eine Euro-Vision im Wortsinn. Das schließt auch Filme mit ein, die außerhalb Europas spielen oder von NichtEuropäern gedreht wurden: Denn der europäische Geist (der im Übrigen, wie jeder andere Geist, gut und böse sein kann) ist nicht an Länder und Leute gebunden.
Wanderhändler, Vagabunden
Was macht dieses Kino-Europa aus? Womöglich ein Gefühl des Dazwischenseins und Nie-richtig-Fuß-fassen-Könnens: Drifter und Herumtreiber, Grenzgänger und Menschen auf der Flucht erscheinen hier als eigentliche Europäer. Sie lassen sich gehen (und fahren), wie der Schweizer Wanderhändler in Christian Schochers mythisch unterfüttertem Roadmovie „Reisender Krieger“. Sie suchen nach einer Heimat abseits ihres Heimatlandes, wie die beiden Kinder in Theo Angelopoulos berückender Elegie „Landschaft im Nebel“. Oder sie gehen auf Umwegen unter, wie die Vagabundin in „Sans toit ni loi“. Ihre Bewegungen sind auf keiner Karte verzeichnet. Dennoch hinterlassen sie Spuren.
Ein Anderswo ist in Europa stets präsent. Vielleicht ist es sogar das wahre Land der unbegrenzten Möglichkeiten – jeder Ortswechsel birgt das Versprechen einer völlig neuen Welt. Dennoch zieht es viele noch weiter weg; etwa gen Osten, den Chantal Akerman in ihrem Reisefilm „D’Est“(1993) mit schweigsamen Bildern zu fassen versucht. Oder ins unberührte Tropenparadies, wo Pierre Richard als Mitarbeiter einer Werbeagentur in der Tourismussatire „Die Schiffbrüchigen der Schildkröteninsel“(1976) auch nicht glücklich wird.
Diese utopischen, zukunftsgerichteten Sehnsüchte werden konterkariert von einer Vergangenheit voller Verwerfungen. Das Menschheitsverbrechen des Holocaust schwelt im Mittelpunkt europäischer Schuld und zeitigt immer wieder Filme, die unangenehme Fragen stellen – etwa Joseph Loseys Doppelgängerstory „Mr. Klein“. Dass Europa auch eine brutale Kolonialmacht war, davon zeugt „Camp de Thiaroye“von Ousmane Semb`ene: die dringliche Erinnerung an ein Massaker, das französische Truppen an senegalesischen Soldaten verübten, die im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Grande Nation gekämpft hatten. In gewisser Hinsicht erzählt auch „La Promesse“, der Durchbruchsfilm der Dardenne-Brüder, die gleiche Geschichte – nur in Belgien und als dokumentarisch an- gehauchte Parabel über die Vertuschung des Todes eines „Illegalen“. Verantwortung für das, was jenseits des eigenen Horizonts liegt, macht das Konzept „Europa“erst denkbar. Die Überwindung von Trennungen gehört zum Wesenskern seiner Mythologie: etwa dass der „geteilte Himmel“über Berlin, den Konrad Wolf in seinem gleichnamigen DDRKlassiker von beiden Seiten schildert, irgendwann wieder eins werden kann.
Großstadt-Großtat: „Playtime“
Aber Mythen, auch reale, reichen oft nicht aus, um ein brüchiges Staatengebilde zusammenzuhalten. Wahrscheinlich binden ökonomische Kräfte viel stärker, obwohl man sie nur schwer abbilden kann. Der Österreicher Gerhard Friedl versuchte es in seinem einzigen Langfilm „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“: Eine Tonspur-Heimsuchung unscheinbarer Aufnahmen europäischer Landschaften und Leistungsstätten durch Gespenster des Kapitalismus, so aufschlussreich wie undurchdringlich. Doch wenn unsichtbare Mächte Europa im Griff halten, wenn sie es im permanenten Ausnahmezustand halten wie in Fritz Langs „Das Testament des Dr. Mabuse“, woher soll man sich dann seine Freiheit nehmen? Vielleicht, antwortet das Komikgenie Jacques Tati, aus dem Spiel mit den Gegebenheiten: Seine Großstadt-Großtat „Playtime“nimmt die Zurichtungen des modernen Alltags mit Humor. Manchmal läuft man in Europa gegen eine Glastür. Doch sieht man genauer hin, merkt man: Eigentlich war sie gar nicht da.
Die Retrospektive findet im Rahmen der Wiener Festwochen statt, drei Künstler und ein Kurator – Bonaventure Ndikung (Berlin), Tianzhuo Chen (Beijing), Derrick Ryan Claude Mitchell (Seattle), Daniel Lie (Sao˜ Paulo) – halten zu vier Filmen Einführungen.