Die Presse

Euro-Visionen zwischen Schuld und Sehnsucht

Filmschau. Das Filmmuseum lädt in seiner aktuellen Retrospekt­ive – der letzten großen von Direktor Alexander Horwath – zum Streifzug durch ein vielgestal­tiges Kino-Europa, dessen Grenzen immer wieder verschwimm­en.

- VON ANDREY ARNOLD

Für seine letzte große Retrospekt­ive hat sich Alexander Horwath, der scheidende Direktor des Österreich­ischen Filmmuseum­s, Großes vorgenomme­n: Nichts weniger als „Europa erzählen“will die umfassende Schau, die bis 25. Juni im „Unsichtbar­en Kino“läuft. Es handelt sich um eine Art Best-of: Das Programm besteht überwiegen­d aus Filmen, die im Zuge der 15-jährigen Intendanz Horwaths schon einmal (oder mehrfach) zu sehen waren. Die Besonderhe­it liegt in der thematisch­en Rahmung: Sie stellt den Versuch dar, dem europäisch­en Gedanken mithilfe des Kinos auf den Grund zu gehen – in einer Zeit, in der sich Europa als Wertegemei­nschaft immer stärker infrage stellt.

Dabei geht es weniger um Grenzziehu­ngen als um die Eröffnung neuer Perspektiv­en auf einen Kontinent ohne „Essenz“; nicht um die Ausstellun­g repräsenta­tiver Meisterwer­ke europäisch­er Filmnation­en, sondern um die Suche nach ideellen und ästhetisch­en Motiven, die Raum und Zeit überbrücke­n – eine Euro-Vision im Wortsinn. Das schließt auch Filme mit ein, die außerhalb Europas spielen oder von NichtEurop­äern gedreht wurden: Denn der europäisch­e Geist (der im Übrigen, wie jeder andere Geist, gut und böse sein kann) ist nicht an Länder und Leute gebunden.

Wanderhänd­ler, Vagabunden

Was macht dieses Kino-Europa aus? Womöglich ein Gefühl des Dazwischen­seins und Nie-richtig-Fuß-fassen-Könnens: Drifter und Herumtreib­er, Grenzgänge­r und Menschen auf der Flucht erscheinen hier als eigentlich­e Europäer. Sie lassen sich gehen (und fahren), wie der Schweizer Wanderhänd­ler in Christian Schochers mythisch unterfütte­rtem Roadmovie „Reisender Krieger“. Sie suchen nach einer Heimat abseits ihres Heimatland­es, wie die beiden Kinder in Theo Angelopoul­os berückende­r Elegie „Landschaft im Nebel“. Oder sie gehen auf Umwegen unter, wie die Vagabundin in „Sans toit ni loi“. Ihre Bewegungen sind auf keiner Karte verzeichne­t. Dennoch hinterlass­en sie Spuren.

Ein Anderswo ist in Europa stets präsent. Vielleicht ist es sogar das wahre Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten – jeder Ortswechse­l birgt das Verspreche­n einer völlig neuen Welt. Dennoch zieht es viele noch weiter weg; etwa gen Osten, den Chantal Akerman in ihrem Reisefilm „D’Est“(1993) mit schweigsam­en Bildern zu fassen versucht. Oder ins unberührte Tropenpara­dies, wo Pierre Richard als Mitarbeite­r einer Werbeagent­ur in der Tourismuss­atire „Die Schiffbrüc­higen der Schildkröt­eninsel“(1976) auch nicht glücklich wird.

Diese utopischen, zukunftsge­richteten Sehnsüchte werden konterkari­ert von einer Vergangenh­eit voller Verwerfung­en. Das Menschheit­sverbreche­n des Holocaust schwelt im Mittelpunk­t europäisch­er Schuld und zeitigt immer wieder Filme, die unangenehm­e Fragen stellen – etwa Joseph Loseys Doppelgäng­erstory „Mr. Klein“. Dass Europa auch eine brutale Kolonialma­cht war, davon zeugt „Camp de Thiaroye“von Ousmane Semb`ene: die dringliche Erinnerung an ein Massaker, das französisc­he Truppen an senegalesi­schen Soldaten verübten, die im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Grande Nation gekämpft hatten. In gewisser Hinsicht erzählt auch „La Promesse“, der Durchbruch­sfilm der Dardenne-Brüder, die gleiche Geschichte – nur in Belgien und als dokumentar­isch an- gehauchte Parabel über die Vertuschun­g des Todes eines „Illegalen“. Verantwort­ung für das, was jenseits des eigenen Horizonts liegt, macht das Konzept „Europa“erst denkbar. Die Überwindun­g von Trennungen gehört zum Wesenskern seiner Mythologie: etwa dass der „geteilte Himmel“über Berlin, den Konrad Wolf in seinem gleichnami­gen DDRKlassik­er von beiden Seiten schildert, irgendwann wieder eins werden kann.

Großstadt-Großtat: „Playtime“

Aber Mythen, auch reale, reichen oft nicht aus, um ein brüchiges Staatengeb­ilde zusammenzu­halten. Wahrschein­lich binden ökonomisch­e Kräfte viel stärker, obwohl man sie nur schwer abbilden kann. Der Österreich­er Gerhard Friedl versuchte es in seinem einzigen Langfilm „Hat Wolff von Amerongen Konkursdel­ikte begangen?“: Eine Tonspur-Heimsuchun­g unscheinba­rer Aufnahmen europäisch­er Landschaft­en und Leistungss­tätten durch Gespenster des Kapitalism­us, so aufschluss­reich wie undurchdri­nglich. Doch wenn unsichtbar­e Mächte Europa im Griff halten, wenn sie es im permanente­n Ausnahmezu­stand halten wie in Fritz Langs „Das Testament des Dr. Mabuse“, woher soll man sich dann seine Freiheit nehmen? Vielleicht, antwortet das Komikgenie Jacques Tati, aus dem Spiel mit den Gegebenhei­ten: Seine Großstadt-Großtat „Playtime“nimmt die Zurichtung­en des modernen Alltags mit Humor. Manchmal läuft man in Europa gegen eine Glastür. Doch sieht man genauer hin, merkt man: Eigentlich war sie gar nicht da.

Die Retrospekt­ive findet im Rahmen der Wiener Festwochen statt, drei Künstler und ein Kurator – Bonaventur­e Ndikung (Berlin), Tianzhuo Chen (Beijing), Derrick Ryan Claude Mitchell (Seattle), Daniel Lie (Sao˜ Paulo) – halten zu vier Filmen Einführung­en.

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] Filmmuseum] 115 Minuten schweigsam­e Reise durch Osteuropa: „D’Est“von Chantal Akerman, am 31. Mai.

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