Österreich und die Geschichte: Werden wir zu einem Orient?
Nach zwei Türkenbelagerungen 1529 und 1683 könnte sich nach 2015 die folgenschwerste entwickeln.
W arum sind die Österreicher auf Kriegsfuß mit der Geschichte? Besser gesagt: Warum fällt es unseren Landsleuten so schwer, aus der Vergangenheit zu lernen? Warum sind die verschiedenen Epochen und Perioden der Historie ausgerechnet hierzulande nicht beliebt? Ist es, weil wir uns in ihnen nicht heimisch fühlen? Oder ist es, weil bei uns Geschichte noch immer ein Fremdwort ist, das man nicht erlebt, sondern höchstens mitmacht?
Einerseits dürfen wir von uns behaupten, dass es Österreich länger gibt als so manches andere Staatsgebiet auf diesem Planeten. Gewiss nicht so lange wie andere. Aber wir haben alles das, was die Geschichte zu bieten hat, mitgemacht im Laufe der Zeit – nicht nur mitgemacht, sondern ertragen. Das darf ein Journalist, der sich, wie er immer wieder behauptet, als Zeitkritiker betätigt, auf dem Weg durch die Epochen von sich sagen.
„Journal“kommt von „jour“, hat also unmittelbar mit einem Zeitbegriff zu tun. Der Schutzpatron der Journalisten ist der Gott Chronos, der Gott der Zeit. Wir sind demnach Chronisten, auch Chroniker, schreiben Chroniken und müssen achtgeben, dass wir nicht in der Langeweile ersticken. Verglichen mit anderen Ländern hat sich Österreich in seiner Abwechslung der historischen Verhältnisse und Umstände, so sonderbar es auch klingen mag, bis zu einem gewissen Grad jugendlich erhalten. Das ist gerade jetzt erwähnenswert, weil anno 2017 so dräuend wie kaum in der Vergangenheit die Überalterung der Bevölkerung am Horizont der Entwicklung auftaucht. Diese Entwicklung hat Österreich genossen.
Dass diese Entwicklung in alle Ecken und Winkel der Geschichte hineinleuchtet und zutage bringt, was in manchen Belangen und Perioden aus guten Gründen in der Dämmerung gehalten wird, darf gerade von Menschen, die sich als Chronisten, Zeitkritiker und, nehmt alles nur in allem, gelegentlich auch als Journalisten ausgeben und auch betätigen, anerkennend behauptet werden. Öfter als einmal sind dann auch Ereignisse und Entwicklungen an der Reihe, die auf ein geteiltes Echo stoßen. Nicht alles in diesen Zeitabschnitten der Geschichte wird von allen positiv bewertet, wobei die Unmittelbarkeit des Erlebens eine besondere Rolle spielt – oder zu spielen scheint. G erade in der heutigen Zeit ist eine europäische Macht diesbezüglich für alle, nicht nur für die historisch Interessierten, mit besonderer Aufmerksamkeit zu beobachten. Die Türkei war einst eine europäische Großmacht. Sie ist heute ein wichtiges, ja eines der wichtigsten Mitglieder der Nato, demnach ein Land, auf dem die militärische Verteidigung der europäischen Demokratien beruht. Aber sie entwickelt sich schrittweise, und zwar immer schneller, zu einer Diktatur, deren Chef immer häufiger auf den Titel „Sultan“Anspruch erheben möchte. Noch wird er ihm mehr oder weniger scherzhaft verliehen, aber immer öfter wird es ernst gemeint.
Ausgerechnet der letzte Papstbesuch in Wien hat solchen Erwägungen Platz gemacht. Und dabei ist außer Betracht geblieben, dass man im Grunde heute von einer dritten Türkenbelagerung sprechen könnte. Nach 1529 und 1683 ist jene von 2015 (und der folgenden Jahre) eine, deren Konsequenzen noch unabsehbar sein könnten. Sie könnten weitaus dauernder sein als die der beiden früheren. Weil sie Österreich orientalisieren könnten. Wir stehen schon nahe davor.