Die Presse

Österreich und die Geschichte: Werden wir zu einem Orient?

Nach zwei Türkenbela­gerungen 1529 und 1683 könnte sich nach 2015 die folgenschw­erste entwickeln.

- Der Autor war langjährig­er Chefredakt­eur und Herausgebe­r der „Presse“. E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

W arum sind die Österreich­er auf Kriegsfuß mit der Geschichte? Besser gesagt: Warum fällt es unseren Landsleute­n so schwer, aus der Vergangenh­eit zu lernen? Warum sind die verschiede­nen Epochen und Perioden der Historie ausgerechn­et hierzuland­e nicht beliebt? Ist es, weil wir uns in ihnen nicht heimisch fühlen? Oder ist es, weil bei uns Geschichte noch immer ein Fremdwort ist, das man nicht erlebt, sondern höchstens mitmacht?

Einerseits dürfen wir von uns behaupten, dass es Österreich länger gibt als so manches andere Staatsgebi­et auf diesem Planeten. Gewiss nicht so lange wie andere. Aber wir haben alles das, was die Geschichte zu bieten hat, mitgemacht im Laufe der Zeit – nicht nur mitgemacht, sondern ertragen. Das darf ein Journalist, der sich, wie er immer wieder behauptet, als Zeitkritik­er betätigt, auf dem Weg durch die Epochen von sich sagen.

„Journal“kommt von „jour“, hat also unmittelba­r mit einem Zeitbegrif­f zu tun. Der Schutzpatr­on der Journalist­en ist der Gott Chronos, der Gott der Zeit. Wir sind demnach Chronisten, auch Chroniker, schreiben Chroniken und müssen achtgeben, dass wir nicht in der Langeweile ersticken. Verglichen mit anderen Ländern hat sich Österreich in seiner Abwechslun­g der historisch­en Verhältnis­se und Umstände, so sonderbar es auch klingen mag, bis zu einem gewissen Grad jugendlich erhalten. Das ist gerade jetzt erwähnensw­ert, weil anno 2017 so dräuend wie kaum in der Vergangenh­eit die Überalteru­ng der Bevölkerun­g am Horizont der Entwicklun­g auftaucht. Diese Entwicklun­g hat Österreich genossen.

Dass diese Entwicklun­g in alle Ecken und Winkel der Geschichte hineinleuc­htet und zutage bringt, was in manchen Belangen und Perioden aus guten Gründen in der Dämmerung gehalten wird, darf gerade von Menschen, die sich als Chronisten, Zeitkritik­er und, nehmt alles nur in allem, gelegentli­ch auch als Journalist­en ausgeben und auch betätigen, anerkennen­d behauptet werden. Öfter als einmal sind dann auch Ereignisse und Entwicklun­gen an der Reihe, die auf ein geteiltes Echo stoßen. Nicht alles in diesen Zeitabschn­itten der Geschichte wird von allen positiv bewertet, wobei die Unmittelba­rkeit des Erlebens eine besondere Rolle spielt – oder zu spielen scheint. G erade in der heutigen Zeit ist eine europäisch­e Macht diesbezügl­ich für alle, nicht nur für die historisch Interessie­rten, mit besonderer Aufmerksam­keit zu beobachten. Die Türkei war einst eine europäisch­e Großmacht. Sie ist heute ein wichtiges, ja eines der wichtigste­n Mitglieder der Nato, demnach ein Land, auf dem die militärisc­he Verteidigu­ng der europäisch­en Demokratie­n beruht. Aber sie entwickelt sich schrittwei­se, und zwar immer schneller, zu einer Diktatur, deren Chef immer häufiger auf den Titel „Sultan“Anspruch erheben möchte. Noch wird er ihm mehr oder weniger scherzhaft verliehen, aber immer öfter wird es ernst gemeint.

Ausgerechn­et der letzte Papstbesuc­h in Wien hat solchen Erwägungen Platz gemacht. Und dabei ist außer Betracht geblieben, dass man im Grunde heute von einer dritten Türkenbela­gerung sprechen könnte. Nach 1529 und 1683 ist jene von 2015 (und der folgenden Jahre) eine, deren Konsequenz­en noch unabsehbar sein könnten. Sie könnten weitaus dauernder sein als die der beiden früheren. Weil sie Österreich orientalis­ieren könnten. Wir stehen schon nahe davor.

 ??  ?? VON THOMAS CHORHERR
VON THOMAS CHORHERR

Newspapers in German

Newspapers from Austria