Die Presse

Ein Medley der größten Haneke-Hits

Filmfestsp­iele Cannes. Am Sonntag feierte Michael Hanekes jüngster Film, „Happy End“, Premiere. Als eine Art KarriereQu­erschnitt bietet er fünf Haneke-Filme zum Preis von einem – versteht sich aber auch als Zeitkommen­tar.

- VON ANDREY ARNOLD

Michael Haneke könnte Cannes-Geschichte schreiben: Falls sein neuer Film „Happy End“ihm eine dritte Goldene Palme einbrächte, wäre das ein Festivalre­kord. Im Fokus stehen die Laurents: eine große, unglücklic­he Bauunterne­hmerfamili­e. Der alternde Patriarch George (JeanLouis Trintignan­t) leidet an Demenz und scheint jeden Lebenswill­en verloren zu haben. Sein Sohn Thomas, ein erfolgreic­her Arzt (Mathieu Kassovitz), mutet mit Frau und Kind zufrieden an – doch der Schein trügt. Workaholic-Tochter Anne (Isabelle Huppert) leitet die Firma und geht ihrem Sprössling Pierre (Franz Rogowski), dem schwarzen Schaf der Sippe, permanent auf die Nerven.

Hinzu kommt die 13-jährige Eve (Fantine Harduin), Thomas’ Tochter aus einer früheren Ehe: Nachdem ihre Mutter wegen einer Überdosis Antidepres­siva ins Krankenhau­s muss, zieht sie in das geräumige Anwesen des Clans, das bis zum Plafond gefüllt ist mit existenzie­ller Leere. Und Eve fügt sich mit ihren soziopathi­schen Neigungen nahtlos in diese bürgerlich­e Hölle ein.

Ein Film als Rätselmosa­ik

Cannes-Intendant Thierry Fremaux´ hatte „Happy End“bei der Programmpr­essekonfer­enz im April als selbstrefe­renzielles Werk beschriebe­n. Und tatsächlic­h bietet der Ensemblefi­lm eine Art Medley der größten Hits des Regisseurs – eine Collage aus seinen bevorzugte­n Motiven, Themen und ästhetisch­en Strategien, die auch das direkte Selbstzita­t nicht scheut. Seine Rätselmosa­ikstruktur, deren Zusammenhä­nge sich nur langsam erschließe­n, erinnert an „Code inconnu“und „71 Fragmente einer Chronologi­e des Zufalls“. Die Entfremdun­gseffekte asozialer Medien an „Bennys Video“. Die Tradition von Gefühlskäl­te an „Das weiße Band“. Aber auch auf „Amour“, „Cache“´ und „Die Klavierspi­elerin“spielt „Happy End“an, und fast alle formalen Kniffe, die Hanekes Filme auszeichne­n, kommen irgendwann zum Einsatz.

Wiederholt fragt man sich etwa, wem der Blick gehört, den man gerade teilt: Besonders bei Ansichten von Bildschirm­en, Displays und Desktopobe­rflächen ein zutiefst verunsiche­rndes Gefühl. Gleich die erste Einstellun­g des Films wirkt auf diese Weise: Eine Frau geht ihrer abendliche­n Hygienerou­tine im Badezimmer nach. Jemand filmt sie mit dem Smartphone, sagt per Kommentarf­unktion jeden ihrer Schritte vo- raus. Ein Stalker? Ein sonderbare­s Spiel? Wie so oft bei Haneke bleibt das zunächst im Unklaren. Später kommen andere Irritation­smittel hinzu: Gespräche, die man sieht, aber nicht hören kann, Totalen, die Gesichtser­kennung erschweren. Und Gesichtser­kennung ist ein passendes Wort: Die Uneindeuti­gkeit vieler Bilder fordert Aufmerksam­keit, macht einen zum Überwacher, der nach verfänglic­hen Indizien Ausschau hält.

Allerdings klären sich die Verhältnis­se (im Unterschie­d zu „Cache“)´ nach und nach auf. „Happy End“ist womöglich der ultimative Haneke-Film, aber fraglos nicht seine originells­te Arbeit. Wollte man böse sein, könnte man sagen, dass dem österreich­ischen Kunstkino-Veteranen die Ideen ausgehen. Freundlich­er könnte man von einer Quersumme seiner Karriere sprechen.

Und obwohl die Virtuositä­t, mit der er hier Versatzstü­cke seines Schaffens verkoppelt, besticht, hält sich der Mehrwert ihres Ineinander­greifens in Grenzen. Wieder einmal offenbart sich ein Panorama der Verein- samung, der toxisch sublimiert­en Todestrieb­e, der Lieblosigk­eit. Wobei es sich natürlich als Zeitkommen­tar versteht: Die Diagnose fällt wenig überrasche­nd vernichten­d aus.

Famoser Jean-Louis Trintignan­t

Europa, das ist in „Happy End“ein Land, in dem geradezu feudale Verhältnis­se herrschen. Hier beuten korrupte Eliten rechtlose Arbeiter aus, hier treibt sich die Wohlstands­gesellscha­ft langsam in den Wahnsinn, während sie ihre Jugend verwahrlos­en lässt. Facebook? Nichts weiter als ein Sammelbeck­en des Verdrängte­n. Und die Wahrnehmun­g der Flüchtling­e, die einen Neuanfang suchen, ist mehr als latent rassistisc­h („Happy End“spielt in Calais, wo die Räumung eines Flüchtling­scamps im Oktober 2016 zum Versorgung­snotstands­symbol geriet).

Doch es gibt auch Neues im HanekeLand: Die Zuspitzung­en fallen so drastisch aus, dass sie zum Teil fast ins Absurde kippen, manchmal meint man eine Prise schwarzen Humors zu entdecken. Die fa- mose Schauspiel­leistung des 86-jährigen Trintignan­t trägt einiges zu diesem Eindruck bei: Der Lebensüber­druss seiner Figur äußert sich oft in präzise gesetzten sardonisch­en Bemerkunge­n. Anderswo wird es ungewohnt ausgelasse­n: In einer der eindringli­chsten Szenen des Films versucht sich Pierre in einer Karaokebar an einem Exorzismus seiner Verzweiflu­ng, tanzt wild zu den Klängen von Sias Pophit „Chandelier“.

Wie gut die Chancen Hanekes auf eine dritte Goldene Palme stehen, lässt sich kaum abschätzen. Im Vergleich zu „Amour“, der in Cannes euphorisch rezipiert wurde, fielen die ersten Reaktionen auf „Happy End“eher verhalten aus. Anderersei­ts ist er als beizender „Zur Lage“-Film wie gemacht für den oft als politische­s Statement vergebenen Hauptpreis. Doch die Konkurrenz ist groß. Unter anderem auch von Filmemache­rn wie Ruben Östlund und Yorgos Lanthimos, die zum Teil selbst mit Hanekes Stil flirten – und ihn gleichfall­s humoristis­ch unterfütte­rn. Die Schüler könnten den Meister überholen.

 ?? [ Filmfestsp­iele Cannes ] ?? Die Bauunterne­hmerfamili­e tafelt: Jean-Lous Trintignan­t als alternder Patriarch, Isabelle Huppert als seine Workaholic-Tochter.
[ Filmfestsp­iele Cannes ] Die Bauunterne­hmerfamili­e tafelt: Jean-Lous Trintignan­t als alternder Patriarch, Isabelle Huppert als seine Workaholic-Tochter.

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