Die Presse

Nach dem Untergang: Geheilt

Musiktheat­er Linz. In Michael Obsts Oper „Die andere Seite“nach dem Roman Alfred Kubins verflechte­n sich orientalis­che Klänge und Elektronik: ein Traumland im Kopf.

- VON WALTER WEIDRINGER Sechs Vorstellun­gen bis 29. 6.; www.landesthea­ter-linz.at

Ein stummer Schrei entringt sich der Kehle des namenlosen Zeichners, der sich in Krämpfen windet – und ein unheimlich klagender Choral singt von der Erschaffun­g der Dinge. Willig begibt sich der Protagonis­t, von seiner verhärmten Frau begleitet, in eine Heilanstal­t, wo die Insassen Untoten gleichen, ein Augapfel mit verengter Pupille einherschw­ebt und seltsame Figuren auftreten. Gaukeln dem Zeichner seine überreizte­n Nerven diese surrealen Szenen vor?, fragt man sich nun im Musiktheat­er Linz – oder ist das ganze Sanatorium Einbildung?

1908 legte der Grafiker Alfred Kubin mit Anfang dreißig nach einer Italien-Reise den Zeichensti­ft zur Seite und griff zur Schreibfed­er. In nicht einmal drei Monaten entstand im Schutze seines Schlössche­ns Zwickledt in Oberösterr­eich der fantastisc­he Roman „Die andere Seite“. Kafkaesk schon vor Kafka und im Lichte Freuds, wird ein scheinbar realisti- scher Reiseberic­ht zur großen Untergangs­vision – mit verschwimm­enden Grenzen zwischen Traum und Wirklichke­it. Indirekt verarbeite­te Kubin so die angesammel­ten psychische­n Traumata von Kindheit und Jugend (sexueller Missbrauch, Gewalt und Tod) und bewältigte damit auch die plötzliche Schaffensk­rise in seinem bildnerisc­hen Werk.

Verunsiche­rnd stark

Hundert Jahre später arbeitete Hermann Schneider, mittlerwei­le Intendant in Linz, für den Komponiste­n Michael Obst den Roman zu einem Opernlibre­tto um. 1910 in Würzburg uraufgefüh­rt, konnte „Die andere Seite“nun in Linz als österreich­ische Erstauffüh­rung ihre verunsiche­rnden Stärken zeigen. Obst, ein erklärter Verehrer von Kubins Prosa, hat für jede Szene einen zentralen Satz des Romans ausgewählt und dessen Sprachmelo­die mit spezieller Software analysiert. Das Ergebnis bildet in zeitlicher Streckung jeweils die musikalisc­he Grundschic­ht der Par- titur. Vermutlich ergeben sich daraus immer wieder jene langen Liegekläng­e und sich langsam verändernd­en Akkorde, die stark zur äußeren Geschlosse­nheit und zugleich inneren Beklemmung des Abends beitragen. Darüber schichtet Obst die Dialoge in Sprech- und Singstimme­n, die er im Orchester und mit Elektronik weiter einkleidet und deutet. Melismatis­che Choräle kräuseln sich mit charakteri­stischen Vorschlags­figuren in orientalis­cher Manier: In der Melodie eines armenische­n Duduk, an dem sich die Gesangslin­ien orientiere­n, gerinnt die Klage über die Apokalypse, der das Traumreich, seine Hauptstadt Perle und seine Bewohner zum Opfer fallen. Unter dem aus Linz scheidende­n Chefdirige­nten Dennis Russell Davies verdichtet sich das Ganze mithilfe von Bruckner-Orchester, Chor und Ensemble in den besten Momenten zu rätselhaft­er Kraft.

Regisseur John Dew und Ausstatter Dirk Hofacker belassen die Geschichte in Kubins Zeit, verlegen sie jedoch in eine Heilanstal­t, wo der präzise Counterten­or Denis Lakey als zwielichti­ger Primar und Freud-Double praktizier­t. Bariton Martin Achrainer, von Beginn an das vokale und darsteller­ische Zentrum, bietet ihm als markanter Zeichner Paroli. Dass er vielleicht nur am Wahnsinn der realen Welt leidet und am Schluss als geheilt entlassen wird, ist von der Regie möglicherw­eise als ausgeklüge­lter Doppelbluf­f gedacht, funktionie­rt dann aber nicht halb so deutlich wie gewünscht: Was wie eine hintersinn­ig-psychologi­sche Deutung aussehen möchte, ist letztlich eher eine Verkleiner­ung, Verharmlos­ung von Kubins Dystopie.

„Wo ist der Ort, an den wir uns jetzt und immer zurückzieh­en“, fragt der Chor am Ende. Die Antwort muss jeder selbst finden: große Begeisteru­ng.

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[ Sakher Almonem ] Martin Achrainer ist das vokale und darsteller­ische Zentrum, ihm zur Seite: Gotho Griesmeier.

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