Mensch unter Menschen
Nachdem sie ihr Physikstudium an der Budapester Universität aufgegeben hatte, um Philosophie bei Georg Lukacs´ zu studieren, wusste sie schon als 20-Jährige, warum sie sich dazu berufen fühlte: „Um die Nuss aufzubrechen und zu sehen, was darinnen ist, das Wesen dessen zu erkennen, was wir Welt, Leben oder Mensch nennen.“Im Bannkreis von Lukacs,´ dem Mentor und Gesprächspartner, dessen Assistentin sie war, der sie zum Denken geführt und auch ihren Widerspruch akzeptiert hatte, und später als Mitglied der philosophischen Budapester Schule auf der Suche nach einem humanistischen, undogmatischen Marxismus blieb Heller lange Zeit überzeugt, dass auf dieser Grundlage ein neues System errichtet werden könne, so wie das alle großen Philosophen vor ihr getan hatten. Es habe gedauert, so schreibt sie in ihrer Autobiografie, bis sie erkannt habe, dass in einem Zeitalter der Interpretation wie dem unsrigen anstelle der großen Systeme das Denken geblieben sei, und dass auch diese Erkenntnis, dass sich nämlich die Nuss nicht knacken lässt, zum Denken gehöre.
Eigenständiges Denken, zu sagen, was man denkt, auch mit allen Konsequenzen: Diese Freiheit hat sich die heute 88-jährige ungarische Philosophin auch unter den widrigen Umständen ihrer Epoche stets genommen. Schon früh widersetzte sie sich dem, was von ihr erwartet wurde. Selbstbewusst und schlagfertig parierte die Dreizehnjährige das Kompliment ihrer Jugendliebe, wie gescheit, obwohl ein Mädchen, sie doch sei. Heller erwiderte darauf, das sei so, als ob er gesagt habe, „Wie gut du doch Fahrrad fahren kannst, obwohl du ein Affe bist“. Die Episode ist titelgebend für ihre Autobiografie „Der Affe auf dem Fahrrad“. Vom Vater wurde sie in ihrem Selbstbewusstsein unterstützt, er empfahl ihr den Berufsweg, den er selbst nicht gewagt hatte, nämlich Komponistin oder Philosophin zu werden, „weil es das Absurdeste für ein Mädchen ist und ich möchte, dass du das Absurdeste wirst“. Entgegen den eigenen musischen Neigungen war er Jurist geworden, ein mittelloser Anwalt der Unterdrückten und Entrechteten und ein philanthropischer Lebenskünstler. Er kam in Auschwitz um, weil er anderen Juden zur Flucht verholfen hatte. Hellers Wiener Großmutter war, wie ihre Enkelin, eine unerschrockene Rebellin, sie studierte als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität und verschaffte sich durch ihre Leistungen unter den chauvinistischen Kollegen Respekt. Nach dem Tod ihres Mannes, eines jüdischen Lehrers, musste sie die Familie allein durchbringen. Sie war in ihrer Zeit eine Außenseiterin, eine Rolle, die auch im Leben der A´gnes Heller eine Konstante geworden ist und die als Geschenk zu betrachten sie immer wieder imstande war.
Jüdisches Bürgertum, vornehm, aber nicht reich, so hat die 1929 in Budapest geborene Philosophin ihre Herkunft beschrieben. Die Vorfahren ihrer Mutter stammten aus einer traditionellen jüdischen Familie in Ungarn, ihre Mitgift und später ihre Arbeit ernährten die Familie. Von Kindheit an erlebte sie die Flüchtigkeit materieller Güter, auf die Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit folgte nahtlos die Mangelwirtschaft des realen Sozialismus. Für Hellers Werdegang konstituierend ist das bürgerlich-jüdische Selbstverständnis von Bildung: Bücher waren für sie der Rettungsanker des geistigen Überlebens in der Bedrohung durch den Nationalsozialismus, als sie auf der Suche nach einem Versteck mit ihrer Mutter von einem Stadtteil in den nächsten zieht.
Aufsässigkeit und Rebellion zeichnet sie schon früh aus: Mit Widerspruch, der ihr Gegenüber überrascht, umschifft sie als junges Mädchen brenzlige Situationen im Ghetto: Einmal bricht sie aus einer Gruppe aus, die zur Deportation eingesammelt wird, und springt mit der Mutter auf eine vorbeifahrende Straßenbahn auf. Ein andermal entgeht sie knapp einer Massenexekution am Ufer der Donau: Sie habe in dieser Zeit ständig im Bewusstsein des Todes gelebt, sagte sie später darüber, aber nicht in diesem Augenblick, da konzentrierte sie sich nur darauf, den richtigen Augenblick für den Sprung in die Donau zu finden. Die mörderische Aktion wurde plötzlich abgebrochen und sie überlebte. Die Erfahrung hatte die Vierzehnjährige erwachsen werden lassen, traumatisiert blieb sie jahrelang.
Aus der Erfahrung heraus, dem Holocaust nur knapp entkommen zu sein, schloss sie sich dem Zionismus und später dem Kommunismus an, um bald zur bitteren Erkenntnis zu gelangen, dass nach der Machtergreifung der kommunistischen Partei 1949 und dem moskauhörigen Regime unter Ma- tyas Rakosi´ Freiheit und Gleichheit eine Illusion waren. Dass sie aufgrund ihrer Faszination durch den messianischen Erlösungscharakter des Marxismus für kurze Zeit mit einer totalitären Ideologie einverstanden war und deren Brutalität übersehen hatte, sollte sie später bedauern. Bald begriff sie, dass sie sich als Intellektuelle zwischen der Rolle eines Paria und der eines Parvenü entscheiden müsse; ein Zwang, der den historischen Umständen ihrer Epoche geschuldet war und ihr persönliches Leben zutiefst beeinflussen sollte. Ihre erste Ehe etwa scheiterte deshalb.
Im Rückblick bezeichnete sie den Ungarn-Aufstand von 1956 als Wendepunkt ihrer Befreiung zu sich selbst, um „ein Mensch unter Menschen“zu werden. Bis dahin habe es der naive Glaube an die Ideen einer Partei, deren Strukturen sie verabscheute, und die Tatsache, dass sie als einfaches Parteimitglied nicht an vorderster Front stand, ihr möglich gemacht, sich selbst nicht zu belügen. Die Revolution habe ihr die Liebe zu ihrem Land zurückgegeben und sie vom Holocaust genesen lassen, eine Revolution, die „sich für mich zu einer Revolution der Gefühle und der Identität auswuchs“. Sie besaß den Mut, der für sie als Intellektuelle in einer historisch schwierigen Situation nötig war, weil „in der Philosophie Wahrheit und Authentizität identisch sind“, denn: „Die im Leben geschlossenen Kompromisse kehren in der Philosophie wieder [. . .] Wenn ich als Philosoph, um meine Stellung zu retten, etwas anderes sage, als ich für richtig halte, dann behalte ich zwar die Stelle, verliere aber meine Philosophie.“
Im kommunistischen Ungarn verlor sie ihre Stelle mehrfach, zum ersten Mal nach der Niederschlagung des Aufstandes 1956. Nach einer Denunziation durch ihre beste Freundin wurde sie von der Universität entlassen und aus der Partei ausgeschlossen. Das bedeutete auch den Ausschluss vom akademischen Diskurs, von Denken und Schreiben und sinnvoller Arbeit. Ein wichtiger Moment in ihrer Persönlichkeitsentwicklung: Bis dahin hatte man ihr geschmeichelt, plötzlich grüßte man sie nicht mehr. Fünf Jahre lang unterrichtete sie an einem Mädchengymnasium, bis sie am Soziologischen Institut eingestellt wurde und wieder schreiben konnte – unter den Arbeitsbedingungen des realen Sozialismus: gelockerte Anwesenheitspflicht und freier Gestaltungsraum, solang man die von der Partei eingeräumte ideologische Kontrollzone nicht überschritt. In der philosophischen Budapester Schule von Lukacs-´Schülern, zu denen auch György Markus,´ Mihaly´ Vajda und Hellers zweiter Mann, der Literaturkritiker und Philosoph Ferenc Feher,´ gehörten, entwickelte sich in den Sechzigerjahren eine oppositionell ausgerichtete geistige Gegenwelt, deren Grundkonsens darin bestand, den offiziellen Lügen der Partei einen wahren Marxismus entgegenzuhalten. Später wird Heller diese Zeit der hitzigen Debatten in Cafes´ oder engen Wohnungen bei Brot und billiger Knackwurst als eine der aufregendsten geistigen Erfahrungen ihres Lebens bezeichnen.
Während sie mit dem Pariser Mai 1968 sympathisierte und ihre eigene Philosophie des Alltagslebens in einer Revolution der Lebensformen Gestalt annehmen sah, zerschlugen sich die vom Prager Frühling geweckten Hoffnungen auf Reformierbarkeit der kommunistischen Systeme schon bald wieder. Durch die Unterschrift unter eine Resolution gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts 1968 war Heller neuerlichen Repressionen ausgesetzt. 1973 wurde sie von der ungarische Akademie der Wissenschaften wegen „Rechtsrevisionismus“verurteilt, abermals von der Uni entfernt und bespitzelt, eine zunehmend unerträgliche Situation; 1977 emigrierte sie mit ihrem Mann nach Australien.
In Melbourne hatte sie bis 1983 eine Professur für Soziologie an der La Trobe University inne. Dort erlebte sie zum ersten Mal die komfortable Position einer modernen Philosophin, von der man nichts anderes verlangt als die Lehrtätigkeit. 1986 folgte sie Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York nach, nach ihrer Emeritierung 2009 pendelte sie halbjährlich zwischen Budapest und der amerikanischen Ostküste.
Dass Arendt keinerlei -ismen angehängt sei, sich also nie auf andere Systeme bezogen, sondern immer nur sich selbst gehört habe, das hat Heller wiederholt wertschätzend hervorgehoben. Auch sie hat Philosophie als „Lebenssache begriffen und erlebt“. Vor allem in ihren späten Jahren hat sie zu einem individualisierten Philosophieren, zu einem die Praxis des Lebens reflektierenden Denken gefunden. Im „postmetaphysischen Zeitalter“, in dem philosophische Schulen der Vergangenheit angehören, kann sie ein Lebenswerk des persönlichen Denkens vorweisen, in dem sie auch die jüngsten Herausforderungen ihrer Zeit denkend mitbegleitet. Dabei ist es der Agnostikerin, die sich doch zum Judentum bekennt, ein Anliegen, dem Leben seine Geheimnisse zu lassen: Auf die Frage nach ihrem Glauben zitierte sie in einem Interview Wittgenstein: „Worüber man nicht sprechen kann, davon soll man schweigen.“Philosophie, das ist für Heller die uralte sokratische Aufgabe, Fragen zu stellen im Bewusstsein, dass es nicht auf alles eine Antwort gibt. Der Sinn ihres Philosophierens, so wie der Sinn ihres Lebens überhaupt, bestehe darin, das hat sie mehrfach betont, selbstständig zu denken und im Denken sie selbst zu bleiben, also Eigenverantwortung für sich und die Welt zu übernehmen, und wenn nötig, auch gegen die herrschenden politischen Umstände.
Dass sie einen Großteil ihres akademischen Lebens mit Fragen der Ethik und der Geschichtsphilosophie verbracht, obwohl sie sich ursprünglich zur Literatur, Musik, zu den Geheimnissen der Sterne hingezogen gefühlt habe, das sei den Toten von Auschwitz und des Gulags geschuldet. „Wie soll ich mir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit meinen persönlichen Erfahrungen eine eigene Welt aufbauen, um zu verstehen, wie Auschwitz und der Gulag möglich waren?“So formulierte sie die zentrale Frage ihres Lebens, die sie zu ihrem gesamten bis dahin entstandenen philosophischen OEuvre angetrieben habe. Sie habe den Marxismus hinter sich lassen und nach neuen Bausteinen suchen müssen. „Das Ergebnis: [. . .] Einiges kann man verstehen, das Ganze nicht“.
Zum Gewinn wird die Beschäftigung mit ihrem Lebenswerk gerade wegen ihres Blicks aus unterschiedlichen Perspektiven, den sie sich durch ein Leben in konträren politischen Systemen erworben hat. Das wirkliche Problem sei die diktatorische Natur der Gesellschaft und der Menschen, aus denen jene besteht: Das hat sie auch in der Begegnung mit westlichen Demokratien, zumal in den USA, wachsam und kritisch bleiben lassen. In ihrer Philosophie hat sich Heller immer wieder darum bemüht, Möglichkeiten und Grenzen des Menschseins zu umreißen, die Sensibilität für die Logik des Herzens zu stärken, die den Verstand leitet und zum respektvollen und sachlichen Diskurs befähigt.
Die Erfahrung totalitärer Systeme hat die Denkwege der Heller geprägt, nicht zuletzt aber auch ihren ungebrochenen Optimismus bestimmt. Ihre Liebe zur ungarischen Heimat ist unerschütterlich, auch angesichts des Regimes von Viktor Orban,´ das den Antisemitismus wieder befeuert hat, von dem sie heftig attackiert wird und gegen das sie wieder auf die Straße geht. Nichts sei umsonst, nach einer Niederlage gebe es wieder Licht am Ende des Tunnels, so ihre tiefste Überzeugung. Das habe man schon 1956 nicht geglaubt, doch es sei anders gekommen: „Das Schicksal hatte mich in eine Grube geworfen“, so wie in der biblischen Josephslegende. Aber eben der Fall in den Brunnen habe Joseph schließlich zum Traumdeuter des Pharaos gemacht. 12. Mai 1929 in Budapest als Tochter jüdischer Eltern geboren, 1944 Tod des Vaters in Auschwitz, sie überlebt den Holocaust mit ihrer Mutter in Budapest. 1947 Beginn des Studiums der Physik und Chemie, wechselt zur Philosophie. 1955 Promotion bei Georg Lukacs,´ wird dessen Assistentin. 1956 Entlassung vom Universitätsdienst, Lehrtätigkeit am Gymnasium. 1958 Parteiausschluss, 1963 Rehabilitierung, Beschäftigung am Soziologischen Institut. 1973 neuerliche Entlassung und Repressionen, lebt von Übersetzungen. 1977 Emigration nach Australien; Professur für Soziologie an der La Trobe University in Melbourne. 1986 Hannah-Arendt-Lehrstuhl an der New School for Social Research in New York, lehrt nach der Emeritierung 2009 weiterhin halbjährlich in Budapest und New York. 2013 Sir-Peter-Ustinov-Gastprofessorin der Stadt Wien: Vorlesungen zum Thema „Die Welt der Vorurteile“am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. 2017 Paul-Watzlawick-Ehrenpreis für das Lebenswerk. „Alltag und Geschichte. Zur sozialistischen Gesellschaftslehre“. Luchterhand, Neuwied, 1970. „Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion“. Herausgegeben von Hans Joas, Suhrkamp, Frankfurt/M 1978. „Theorie der Gefühle“. VSA, Hamburg, 1980. „Der Mensch der Renaissance“. Suhrkamp, Frankfurt/M, 1980. „Ist die Moderne lebensfähig?“Campus, Frankfurt/M. 1995. „Der Affe auf dem Fahrrad. Eine Lebensgeschichte“. Philo, Berlin/Wien, 1999. „Die Auferstehung des jüdischen Jesus“. Philo, Berlin/Wien, 2002. „Die Welt der Vorurteile. Geschichte und Grundlagen für Menschliches und Unmenschliches“. Edition Konturen, Wien, Hamburg, 2014. „Von der Utopie zur Dystopie. Was können wir uns wünschen?“Edition Konturen, Wien, Hamburg 2016.