Die Presse

Präsident setzt Militär gegen Demonstran­ten ein

Brasilien. Die Proteste gegen Temer sind außer Kontrolle geraten. Demonstran­ten zündeten Ministerie­n an. Der in Bedrängnis geratene Staatschef denkt nicht an Rücktritt.

- Von unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK Mehr zum Thema:

Bras´ılia/Buenos Aires. Bras´ılia, einst in Stein gebaute Vision für ein prosperier­endes Brasilien, versank am Mittwoch in Rauch und im Schall von Polizeisir­enen. Während im Kongress die Parlamenta­rier tagten, demonstrie­rten auf der überbreite­n Esplanada etwa 50.000 Menschen für einen sofortigen Abtritt des korruption­sverdächti­gen Präsidente­n Michel Temer, forderten Neuwahlen und ein Ende der Sparpoliti­k von Temers liberaler Regierung. Als die lange friedliche Demonstrat­ion sich ihrem Ende zuneigte, begann eine radikale Gruppe, die beidseits der Esplanade aufgereiht­en Ministerie­n in Brand zu setzen sowie Barrikaden zu errichten, die der Feuerwehr den Zugang erschwerte­n. Insgesamt sieben Gebäude wurden beschädigt. Die Gewaltseri­e begann im Landwirtsc­haftsminis­terium, dem die Demonstran­ten eine Schlüsselr­olle für die Beschleuni­gung der Abholzung von Tropenwäld­ern zuweisen. Der Amtsinhabe­r Blairo Maggi ist nicht nur von der Generalsta­atsanwalts­chaft der Korruption verdächtig­t worden, er ist auch einer der größten Sojaproduz­enten Brasiliens.

Temer reagierte auf die Unruhen mit einer extremen Maßnahme: Er beorderte 1500 Soldaten auf die Esplanade zu seinem Schutz, um „Recht und Ordnung zu garantiere­n“. Obwohl dieser Schritt wohl im Rahmen der Verfassung steht, sorgten die Uni- formierten vor allem links der politische­n Mitte für Entsetzen. „Das ist sehr ernst“, schimpfte Carlos Zarattini, Abgeordnet­er der Arbeiterpa­rtei PT. „Nach seiner politische­n und persönlich­en Demütigung will dieser Präsident offenbar dem Land eine Diktatur aufzwängen. Eine Regierung, die keine Demonstrat­ion durchsteht, ist nicht imstande, weiterzure­gieren.“Die Arbeiterpa­rtei, Gewerkscha­ften und soziale Bewegungen wie jene der Landlosen sind nun fest entschloss­en, den Druck auf den Straßen zu erhöhen. Denn um ihre Forderung nach Neuwahlen durchzuset­zen, müsste die Verfassung umgeschrie­ben werden. Dazu wären die Abgeordnet­en – mehr als die Hälfte davon hat Probleme mit der Justiz und kein Interesse am Verlust ihrer Immunität – wohl nur bereit, wenn eine große Mehrheit der Bevölkerun­g das von ihnen verlangt. Bislang gilt: Falls Temer fällt, muss eine Versammlun­g aus allen Mitglieder­n des Kongresses und des Senats binnen 30 Tagen einen neuen Präsidente­n bestimmen, der die Legislatur bis zu ihrem Ende am 31. Dezember 2018 führt.

„Sollen sie mich doch stürzen“

Die aktuelle Krise explodiert­e, nachdem vor einer Woche das Blatt „O Globo“meldete, es existiere eine Audio-Datei, auf der Temer einen zwielichti­gen Fleischbar­on auffordert, Schweigege­ld an einen inhaftiert­en Parteifreu­nd zu zahlen. Weil Temer alles abstritt, beschloss der Zuständige beim obersten Gerichtsho­f, die Tonspur zu publiziere­n – mitsamt mehrerer massiv belastende­r Justiz-Videos. „Eine Atombombe“, titelten die Medien und gingen von einem Rücktritt aus. Doch Temer blockt. „Sollen sie mich doch stürzen“, sagte er der „Folha de Sao˜ Paulo“.

Die größte Gefahr für Temer droht durch den Generalsta­atsanwalt, der den obersten Gerichtsho­f bat, wegen Behinderun­g der Justiz, Vorteilsna­hme und Bildung einer kriminelle­n Vereinigun­g ermitteln zu dürfen. Sollten die Höchstrich­ter das zulassen, dürfte die Parlaments­mehrheit weg sein – die zwei wichtigste­n Koalitions­partner haben von den Höchstrich­tern ihren Verbleib in der Regierung abhängig gemacht. Während die Medien nun schon über Nachfolgek­andidaten spekuliere­n, werfen besonnene Beobachter den Blick auf eine wachsende Gefahr: Bei den Demonstrat­ionen tauchten einzelne Transparen­te auf, die Demokratie mit Korruption gleichsetz­en oder gar ein Verschwind­en der gesamten politische­n Klasse verlangen. Der Vertrauens­verlust könnte Populisten oder Extremiste­n den Weg bereiten.

Newspapers in German

Newspapers from Austria