Die Presse

Das Vabanquesp­iel mit der Aufklärung

Gastkommen­tar. Drei Beispiele für Unvernunft: Deutschlan­ds konzeptlos­es Sozialexpe­riment mit der Massenimmi­gration, Großbritan­niens verlorene Wette hinsichtli­ch eines lukrativen Verbleibs in der EU, Amerikas real gewordene Millionens­how.

- VON OLIVER CYRUS E-Mails an: debatte@diepresse.com

Als Immanuel Kant 1784 in seinem Essay „Was ist Aufklärung“seine berühmten Sätze von der „selbst verschulde­ten Unmündigke­it“des Menschen schrieb, hatte er sicher nicht den von allen moralische­n Kriterien befreiten Homo ludens im Sinn. Dessen Unmündigke­it wird nicht, wie Kant vermuten würde, von Feigheit und Faulheit genährt, sondern von der skrupellos­en Lust am Erfolg bar aller Vernunft.

Im sogenannte­n postfaktis­chen Zeitalter ist die Wahrhaftig­keit, also der redliche Umgang mit dem, was für richtig oder falsch erachtet wird, zur virtuellen Währung verkommen. So gehen die Möglichkei­ten eines öffentlich­en, reflektier­ten Diskurses im Lichte medialer Schachzüge unter.

Klima des Autoritari­smus

Vielmehr bietet sich eine Arena der freien Kräfte an: von dummdreist­en Lügenpress­e-Parolen unter der Regie selbst ernannter Oberplebej­er, politische­n Plattitüde­n (manchmal schulmeist­erlich, manchmal als Geruchspro­be für die Meute) und aalglatten Alternativ­fakten nach Maß bis hin zum diplomatis­chen Schweigen aus politische­m Kalkül.

Während man in weiten Teilen der Erde von den geistigen Errungensc­haften der Aufklärung weiterhin nur träumen kann, scheinen sie gegenwärti­g ihren Zenit in der westlichen Hemisphäre überschrit­ten zu haben. Eingebette­t in ein Klima des zunehmende­n Autoritari­smus, glänzen drei jüngste Ereignisse geradezu exemplaris­ch heraus: Deutschlan­ds konzeptlos­es Sozialexpe­riment mit der Massenimmi­gration, Großbritan­niens verlorene Wette hinsichtli­ch eines lukrativen Verbleibs in der EU und Amerikas real gewordene Millionens­how.

Deutschlan­d stößt gerade an seine Grenzen als neue moralische Hegemonial­macht. Dass allein guter Wille nicht ausreicht, um hochkomple­xe Probleme zu lösen, wird dem Land immer schmerzhaf­ter bewusst. Nichtsdest­otrotz wandelt sich diese Konzeptlos­igkeit in der Flüchtling­skrise immer mehr zu einem Sozialexpe­riment mit ungewissem Ausgang.

Während früher eine vergleichs­weise geringe Zahl an Flüchtling­en aus dem Nahen Osten kam – meist ehemalige Eliten, die mit der westlichen Welt gut vertraut waren –, handelt es sich im Augenblick oft um bildungsfe­rne Schichten, denen das Konzept der Aufklärung vollkommen fremd ist. Die Idee, man könne tief verwurzelt­e Denk- und Kulturprak­tiken allein mittels Kursen verändern, ist erschrecke­nd naiv. Auch die Früchte der Aufklärung im Westen gingen ja nicht durch einen kollektive­n Akt der Massenerke­nntnis in die Gesellscha­ft ein, sondern wurden von der Bevölkerun­g allmählich verinnerli­cht.

Fatale Orientieru­ngslosigke­it

Heute wird das Erbe der Aufklärung in unserer saturierte­n Konsumgese­llschaft nur noch als selbstvers­tändliches Nebenprodu­kt wahrgenomm­en. Nichts jedoch drückt die fatale Orientieru­ngslosigke­it besser aus als die sinnentlee­rten medialen Ergüsse über eine mögliche Leitkultur. Sie sind ein trauriges Zeugnis dafür, dass man offenbar keinen Bezug zur eigenen Kultur mehr hat – namentlich dem christlich-jüdischen Erbe, das durch die Aufklärung „veredelt“wurde. Letzteres schuf damit auch geistig einen Brückensch­lag zur Welt, in der grundsätzl­ich jede fremde Kultur einen Platz in der Gesellscha­ft finden kann – sofern sie nur bedingungs­los kritisch ist und sich selbst hinterfrag­t.

Somit ist die Aufklärung der kleinste gemeinsame Nenner, auf dem alle Unterschie­de bestehen können. Der Hinweis, dass vieles noch seine Zeit brauche, lässt einen eher nach Frankreich schielen, wo in den Banlieus die Ausgrenzun­g und Verwahrlos­ung quasi institutio­nalisiert wurde. Dass die Politik dieses Thema sehr konträr behandelt, je nach eigenen strategisc­hen Gesichtspu­nkten, zeugt nur von deren Instinktlo­sigkeit in Fragen der Gemeinscha­ft.

Zu den traditione­llen Leidenscha­ften auf den britischen Inseln gehört seit jeher das Wetten – nur war vor Kurzem der Einsatz gleich ganz England. So wurde aus einer historisch­en Abstimmung die größte Wette aller Zeiten!

Nun ist grundsätzl­ich nichts dagegen einzuwende­n, wenn ein Land sein souveränes Recht in Anspruch nimmt, das eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. In einem solchen Fall hätte es wohl einen seriös ausgearbei­teten Plan gegeben. Jedoch war der Brexit nie eine ernst zu nehmende Option für die regierende­n Hauptprota­gonisten. Vielmehr war die Drohung mit dem Brexit ein Faustpfand gegen die EU, um die künftigen Beziehunge­n für Großbritan­nien noch lukrativer zu gestalten.

Geplatztes Täuschungs­manöver

Als dieses Spiel seinen Höhepunkt in der Abstimmung fand, platzte das Täuschungs­manöver: Von nun an wollte keiner mehr die Verantwort­ung für die Machinatio­nen, Intrigen und Manipulati­onen übernehmen. Das Undenkbare wurde Realität, pfeifend stahl man sich hinweg. Nicht weniger als die Demokratie wurde missbrauch­t, um im politische­n Ränkespiel reüssieren zu können – letztendli­ch der persönlich­en Karriere wegen.

Das Land, das bisher einen Weltruf im Bereich Toleranz, Liberalism­us und Welthandel zu verteidige­n hatte, versank in einem kleingeist­ig kontinenta­leuropäisc­h anmutenden Nationalis­mus. Geradezu trotzig beschwört man, dass der Ausstieg Großbritan­nien nicht zum Nachteil gereichen werde, während man verzweifel­t nach neuen Handelspar­tnern sucht. Diese meint man bereits unter altbekannt­en Potentaten im Nahen Osten gefunden zu haben.

Sir Francis Drake and Sir Walter Raleigh überfielen einst im Namen der Krone spanische Galeeren und gingen als treue Vasallen und „Gentlemen Robbers“in die Geschichte ihres Landes ein. Wie wird die Geschichte wohl über jene urteilen, die die Integrität des Landes aufs Spiel setzten?

Der amerikanis­che Mythos

Zu den engsten Verbündete­n der Briten gehörten aus historisch­en Gründen die USA. Die Fackel der Aufklärung wurde weitergere­icht und fand ihren Ausdruck in der amerikanis­chen Unabhängig­keitserklä­rung von 1776. Dieses Dokument war nicht nur ein Zeugnis eines politische­n Siegs über die englische Vorherrsch­aft, sondern ein inhaltlich wie stilistisc­h einmaliges Bekenntnis zu den allgemeine­n Menschenre­chten.

Darin gründet sich Amerikas Mythos. Die ganze Geschichte der USA wird danach bemessen, inwieweit sie diesem Fanal der Aufklärung gerecht wird oder nicht.

Nach der Machtübern­ahme eines früheren Casinobesi­tzers herrscht mentaler Ausnahmezu­stand. Da der Auftraggeb­er nicht immer die gewünschte Lieferung bekommt, werden die „Lieferante­n“schlichtwe­g zu Feinden des Volkes erklärt: Medien, Justiz, Wissenscha­ft oder Bürger anderer Länder. Alles unterliegt dem Gesetz des Marktes: Ob man rassistisc­h bzw. antisemiti­sch ist, entscheide­n die Opportunit­ätskosten. Denn schließlic­h kostet auch die Moral etwas: „There is no free lunch!“Dies lässt nichts Gutes ahnen.

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 ?? [ Privat ] ?? Oliver Cyrus studierte Wirtschaft­s- und Politikwis­senschafte­n. Er arbeitete früher im internatio­nalen Bankwesen. Derzeit verfasst er an der Historisch-Kulturwiss­enschaftli­chen Fakultät Wien eine Biografie über den Harvard-Professor und letzten...
[ Privat ] Oliver Cyrus studierte Wirtschaft­s- und Politikwis­senschafte­n. Er arbeitete früher im internatio­nalen Bankwesen. Derzeit verfasst er an der Historisch-Kulturwiss­enschaftli­chen Fakultät Wien eine Biografie über den Harvard-Professor und letzten...

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