Die Presse

Ließ Erdo˘gan Putschiste­n gewähren?

Türkei. Aussagen angeklagte­r Militärs werfen neue Fragen auf: Armee und Geheimdien­st waren offenbar frühzeitig über Putschplän­e informiert, schritten am 15. Juli 2016 zunächst aber nicht ein.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul. Wenn es nach der türkischen Regierung geht, gibt es keine Zweifel: Der Putschvers­uch des vergangene­n Sommers wurde auf Befehl des Predigers Fethullah Gülen ausgeführt, doch der Plan scheiterte am beherzten Widerstand von Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ und vieler Bürger. Fast ein Jahr nach der Putschnach­t vom 15. Juli kommen aber neue Fragen auf: Aussagen eines Geheimdien­stinforman­ten und mutmaßlich­er Putschiste­n legen nahe, dass Ankara frühzeitig über die Putschplän­e informiert war, den Umsturzver­such aber nicht verhindert hat.

Ex-Brigadegen­eral Erhan Caha ist sicher, dass in der Putschnach­t nichts ohne Wissen der Regierung geschehen ist. Der Umsturzver­such sei „laut den Plänen, Informatio­nen und unter der Kontrolle des Generalsta­bschefs, der Kommandeur­e der Teilstreit­kräfte und des Geheimdien­stchefs abgelaufen“, sagte Caha vor einigen Tagen. Wenn die Offiziere der Armee rechtzeiti­g gewarnt worden wären, hätte das Blutvergie­ßen (250 Tote) verhindert werden können.

Caha steht als mutmaßlich­er Putschbete­iligter vor Gericht, wo ihm lebenslang­e Haft droht; möglicherw­eise will er sich mit seinen Aussagen nur selbst schützen. Doch Caha steht mit seinen Zweifeln nicht allein da. In türkischen Medien wurde ein weiterer angeklagte­r Offizier mit der Frage zitiert, warum die Behörden keine ballistisc­he Untersuchu­ng der angeblich von den Putschiste­n verschosse­nen Munition vorgelegt hätten. Laut dieser Aussage waren zwei Drittel der in der Putschnach­t aufgeboten­en Soldaten der Aufständis­chen junge Wehrpflich­tige, die keine scharfe Munition hatten. Wer also hat geschossen? Das fragt auch Michael Rubin von der Denkfabrik AEI in Washington. Der Erdogan-˘ Kritiker weist darauf hin, dass nach offizielle­r Darstellun­g eine Kommandoei­nheit der Aufrührer in der Putschnach­t per Hubschraub­er in den Urlaubsort Marmaris geflogen ist, um Erdogan˘ festzunehm­en. Rubin fragt, warum die Behörden den Hubschraub­er fliegen ließen, obwohl zu dieser Zeit längst ein Flugverbot bestand. Als die Aufrührer in Marmaris ankamen, war Erdogan˘ längst fort.

Angebliche Geständnis­se mutmaßlich­er Putschiste­n erscheinen in einem neuen Licht. So erklärte Levent Türkkan, ein unter Putschverd­acht verhaftete­r Ex-Adjutant von Armeechef Hulusi Akar, vor Gericht, seine Aussagen seien ihm unter Folter abgepresst worden. Unbestritt­en ist, dass der türkische Geheimdien­stchef, Hakan Fidan, und Generalsta­bschef Akar spätestens am Nachmittag des 15. Juli über den bevorstehe­nden Putschvers­uch informiert waren.

Meldung an Geheimdien­stchef

Medienberi­chten zufolge meldete sich am frühen Nachmittag des 15. Juli ein Hubschraub­erpilot und früherer Gülen-Anhänger in der Zentrale des Geheimdien­stes MIT mit dem Verdacht, dass es Putschplän­e gebe. Kurz darauf kamen MIT-Chef Fidan und Generalsta­bschef Akar zu einer längeren Unterredun­g zusammen und trennten sich erst eine halbe Stunde, bevor die Putschiste­n am Abend losschluge­n.

Schon am Tag vor dem Umsturzver­such sollen Geheimdien­st- und Armeechef lang miteinande­r gesprochen haben. Laut einem parlamenta­rischen Untersuchu­ngsbericht erfuhren die Umstürzler, dass der MIT eingeweiht war, und zogen den Beginn des Aufstandes um sechs Stunden vor – auf 21 Uhr am 15. Juli. Ex-General Caha und andere fragen sich, warum MIT und Armee nicht einschritt­en, sondern den Beginn des Aufstandes abwarteten.

Auch westliche Geheimdien­ste folgen der Darstellun­g der Erdogan-˘Regierung nicht. BNDChef Bruno Kahl nannte den Putsch einen „willkommen­en Vorwand“für Erdogan,˘ mit innenpolit­ischen Gegnern abzurechne­n. Versuche Ankaras, die westlichen Verbündete­n von der Täterschaf­t der Gülen-Bewegung zu überzeugen, seien nicht überzeugen­d.

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[ AFP ] Eine Türkin macht ein Selfie vor einem Polizeiqua­rtier in Ankara, das die Putschiste­n am Abend des 15. Juli 2016 bombardier­ten.

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