Die Presse

Zerbricht Visegr´ad-Gruppe an Merkel und Macron?

Kerneuropa. Berlin und Paris wollen eine stärker integriert­e EU. Das stellt Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei vor ein Dilemma.

- Von unserem Korrespond­enten BORIS KALNOKY´

Budapest. Seit rund zwei Jahren profiliert sich der Block der sogenannte­n Visegrad-´Länder (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) als neuer Machtfakto­r in der europäisch­en Politik. Der Brexit steigert das Gewicht der Mitteleuro­päer noch: Ihr Anteil an der EU-Bevölkerun­g, Wirtschaft­sleistung und ihr relatives Gewicht in den europäisch­en Institutio­nen wächst. Ihre Meinung zählt, und diese Meinung – mehr nationale Eigenständ­igkeit, Abkehr vom Gedanken eines föderalen Europa – steht in Kontrast zu vielem, was man in Berlin und Brüssel denkt.

Jetzt aber dreht sich der Wind und bläst so stark, dass der Zusammenha­lt der Visegrader´ daran zerbrechen könnte. Der Wahlsieg des proeuropäi­schen Emmanuel Macron bei den französisc­hen Präsidents­chaftswahl­en verleiht dem deutsch-französisc­hen Motor neue Kraft. Gemeinsam wollen Macron und Bundeskanz­lerin Angela Merkel die Europapoli­tik voranbring­en: vielleicht eine gemeinsame Wirtschaft­sregierung und europäisch­e Steuern, die direkt nach Brüssel fließen würden. Das Schlagwort vom „Europa der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten“geht um. Die Eurozone würde sich Schritt für Schritt zu einer Art europäisch­em Bundesstaa­t entwickeln, die anderen Länder blieben außen vor.

Vier verschiede­ne Standpunkt­e

Die Visegrader´ wollen keinen Schritt in Richtung auf ein stärker integriert­es Europa tun, wollen anderersei­ts aber auch nicht an der Peripherie zurückgela­ssen werden, während sich ein „Kerneuropa“als neuer Machtpol entwickelt. Sie stehen also vor einem Dilemma: Ihre Meinung ändern und mitmachen, oder sich verweigern und – potenziell – an Gewicht verlieren.

Die Visegrad-´Länder haben dazu vier verschiede­ne Meinungen. „Wir müssen uns dagegenste­llen“, ist der Standpunkt des in Polen tonangeben­den Chefs der Regierungs­partei PiS, Jarosław Kaczyn´ski. Die ungarische Regierung sieht es nach Worten ihres Sprechers, Zoltan´ Kovacs,´ gelassener: Man wolle erst einmal abwarten, bisher sei außer Schlagwort­en nichts passiert. Eine einzige Bedingung haben die Ungarn: Ein tiefer integriert­es „Kerneuropa“dürfe kein geschlosse­ner Klub sein, es müsse für die anderen EU-Mitglieder immer die Chance geben, irgendwann beitreten zu können.

Der tschechisc­he Premier, Bohuslaw Sobotka, hingegen fürchtet, sein Land würde im „Europa der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten“auf die „langsame Spur“gedrängt, wenn es nicht der Eurozone beitritt. Tschechien sei wirtschaft­lich so abhängig von Deutschlan­d, dass man wohl mitziehen müsse, wenn ein „Kerneuropa“auf Grundlage der Eurozone entstünde. Noch klarer positionie­rt sich die Slowakei, als einziges Visegrad-´Land bereits Mitglied der Eurozone: „Wir haben eine historisch­e Chance, als ein Land der A-Kategorie zum inneren Kern der EU zu gehören“, sagte kürzlich der slowakisch­e Ministerpr­äsident, Robert Fico.

Statt der „Visegrad-Vier“ist deswegen bei Experten immer mehr von den „Visegrad 2+2“die Rede. Tschechien und die Slowakei auf der einen, zu Deutschlan­d tendierend­en Seite, Ungarn und Polen auf der anderen. Zerbricht der Block also am neuen deutsch-französisc­hen Power-Paar? Die konservati­ve polnische Kommentato­rin Aleksandra Rybin´ska hält es für wahrschein­licher, dass das deutschfra­nzösische Idyll zerbricht: „Letztlich verstehen die Franzosen unter Europa deutsche Transferza­hlungen, um Frankreich Strukturre­formen zu ersparen.“Für Polen sei es jedenfalls kaum möglich, Deutschlan­d entgegenzu­kommen, denn das würde bedeuten, „dass wir Migranten aufnehmen und der Eurozone beitreten müssen.“

Auch 70 Prozent der tschechisc­hen Bürger lehnen Umfragen zufolge den Euro ab. Im Oktober wird gewählt, und die euroskepti­sche Ano-Partei des jetzigen Finanzmini­sters, Andrej Babis, liegt in den Umfragen weit vorn. Dass der sozialdemo­kratische Regierungs­chef Sobotka mitten im Wahlkampf trotzdem eine so unpopuläre Meinung formuliert, zeigt, wie sehr die Debatte über „Kerneuropa“die Visegrad-´Länder unter Druck setzt.

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[ Imago ] Im März signalisie­rten die Regierungs­chefs der Visegrad-´Länder noch Einigkeit.

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