Warum Regeln wichtig sind
Diskussion. Jörg Baberowski sprach mit „Presse“–Chefredakteur Rainer Nowak über Terror und warum eine Gesellschaft von Vertrauen lebt.
Wien. Der Terroranschlag in London ist erst wenige Tage her – wie kann es sein, dass Menschen, die in einem friedlichen Land leben, plötzlich gewalttätig werden? Mit dieser Frage befasst sich der Historiker und Gewaltforscher Jörg Baberowski. Die Antwort: Wenn sie Raum dafür haben. Wenn sich ihr moralischer Referenzrahmen verschiebt, sie ihr Verhalten als normal empfinden – und wenn sie nichts zu verlieren haben. Das gelte in Kriegen wie bei Terroristen: „Sie sind einmal in ihrem Leben bedeutungsvoll. Das ist für einen Verlierer etwas Unwiderstehliches.“
Baberowski sprach Mittwochabend im Rahmen einer Kooperationsveranstaltung mit dem Österreichischen Integrationsfonds mit „Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak über jene Faktoren, die eine Gesellschaft zusammenhalten.
Baberowski gilt als Stalin-Experte und hat sich mit der Gewalt in der Sowjetunion beschäftigt – über diesen Weg ist er zur Gewaltforschung gekommen. Zuletzt geriet er in Deutschland in Kritik, weil er die Willkommenspolitik von Angela Merkel nicht guthieß. Wobei seine Worte keine Kritik an der Willkommenskultur gewesen seien, sagte Baberowski, sondern daran, dass es keine politische Strategie in der Zeit der großen Flüchtlingswelle gegeben habe. „Asylverfahren sind nicht dafür gemacht, zwei Millionen Menschen durchzuschleusen“, sagt er. Es brauche eine Einwanderungspolitik. Und diese gebe es bis heute nicht. Dabei müsse auf die Folgen reagiert werden: Viele Menschen seien gekommen und machten jetzt die Erfahrung, dass sie zwar wirtschaftlich besser leben, sozial aber abgestiegen sind.
Gerade bei Afghanen sei das Bildungsniveau schwach. „Sie“, meint er, „sind extrem frustriert, weil sie an der einfachsten Ausbildung scheitern. Diese Leute müssen eine Verwurzelung finden, sonst treibt man sie in die Arme von Islamisten.“Gerade junge Menschen brauchten deswegen Chancen auf einen Aufstieg. Auch wenn das dauern sollte. Eine Integration von so vielen Menschen in kurzer Zeit – das könne nicht funktionieren.
Denn die Einwanderung zu steuern – das sei auch im Interesse von Flüchtlingen, die schon lange im Land sind. Obwohl sie mittlerweile bestens integriert sind, werden sie jetzt wieder als Ausländer beschimpft.
Sicherheit ist nicht messbar
Sicherheit sei nicht messbar, meint Baberowski: Wenn junge Frauen in manchen Vierteln Berlins nachts nicht mehr in die U-Bahn steigen wollen, dann sei das ein Problem. Ein Problem, das vor allem das subjektive Sicherheitsgefühl betrifft. Früher habe es vielleicht (statistisch) mehr Gewalt gegeben, diese habe aber nur unter be- stimmten Personengruppen stattgefunden. „Jetzt kann überall und zu jeder Zeit etwas passieren.“
Genau deswegen müsse der Staat zeigen, dass er stark sei. In New York hätte etwa der ehemalige Bürgermeister Rudolph Giuliani durch seine Law-and-Order-Politik für mehr Sicherheit gesorgt. „Liberale Gesellschaften haben ein starkes Gewaltmonopol“, sagt Baberowski. Und: „Eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn es ein gemeinsames Verständnis der geltenden Regeln und Gesetze gibt, das Vertrauen innerhalb der Gesellschaft schafft.“
Was passiert, wenn so eine staatliche Ordnung nicht mehr gilt, zeigt der Zerfall der ehemaligen Sowjetunion. Dann werde Gewalt zur Handlungsoption. „Diese Erfahrung haben auch viele Flüchtlinge gemacht, die aus vom Krieg zerstörten Gesellschaften nach Europa kommen. Viele kennen kein staatliches Sicherheitssystem und misstrauen staatlichen Institutionen.“(win)