Das Debakel der Tories: Warum Theresa May scheiterte
Analyse. Die konservative Premierministerin führte ihre Partei statt in den Triumph in ein Desaster. Sie führte einen miserablen Wahlkampf und setzte nur auf ein Thema – den Brexit – und auf leere Phrasen. Die Anatomie eines selbst verschuldeten Polit-Unf
London. Theresa May hat bei den Neuwahlen einen hohen Preis für ihre Entscheidung zur vorzeitigen Auflösung des Parlaments bezahlt. Die Konservativen verloren im Unterhaus die absolute Mehrheit. In Zukunft ist die Premierministerin auf die Unterstützung der Democratic Unionist Party angewiesen. Die nordirischen Protestanten sind berüchtigt unsichere Kantonisten.
Der von May im Vorjahr in einer ihrer ersten Amtshandlungen brutal hinausgeschmissene frühere Schatzkanzler George Osborne ließ gestern kein Fernsehstudio aus, wo er händereibend und voller Häme von „Katastrophe“, „Desaster“und „Unglück“sprach. Ein anderer Tory-Politiker meinte hingegen: „Wir haben uns nicht in den Fuß geschossen, sondern in den Kopf.“
Was lief schief? Als May Mitte April Neuwahlen vom Zaun brach, gab sie der Verlockung nach, ihre überragenden Umfragewerte in politisches Kapital umzusetzen. Die Konservativen hatten zu diesem Zeitpunkt eine Mehrheit von 17 Mandaten. May erklärte, sie brauche für die kommenden Brexit-Verhandlungen eine „starke Mehrheit“, und nur sie könne dem Land „starke und stabile Führung“bieten.
Abgesehen davon, dass May damit ihre mehrfache Versicherung brach, dass sie keine Neuwahlen brauche, sondern „nur meine Arbeit erledigen“wolle, zeigte sie im Wahlkampf alles andere als die bis zum Überdruss beschworene „strong and stable leadership“. Einer der Gründe für das Debakel der Konservativen war Mays miserabler Wahlkampf.
Verprellte Kernschicht
Mit der „dementia tax“, nach der die Altenbetreuung künftig aus dem persönlichen Erbe mitfinanziert werden sollte, stieß man die konservative Kerntruppe der Pensionisten vor den Kopf. Mit der Streichung der Subvention für Schulessen zeigte sich die Partei kalt und gefühllos gegenüber den Sorgen von Millionen Eltern. Mit den Versprechungen, dass der Brexit unter Mays Führung „mehr Jobs, mehr Wohnungen und besseren öffentlichen Verkehr“bringe, erwiesen sich die Konservativen als Bewohner eines Wolkenkuckucksheims.
Mehr als alles andere war die Wahlniederlage aber ein persönliches Debakel für May. Das Ergebnis zeigte, dass die Politikerin nicht nur die Herzen der Briten verfehlte, sondern auch ihren Verstand: Ihr einziges Thema im Wahlkampf war der Brexit. Doch anstatt die schwerwiegendste Entscheidung für Großbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg mit Inhalten zu füllen, wiederholte May lediglich die Formel „No deal is better than a bad deal“bis zum Abwinken.
Ihre Schlussfolgerung aus dem BrexitReferendum vor einem Jahr lautete, klare Verhältnisse zu schaffen, egal zu welchem Preis: Austritt aus dem Binnenmarkt, der Zollunion und dem Europäischen Gerichtshof. Auf der anderen Seite stehen das Ende der Personenfreizügigkeit, der Zahlungen an Brüssel und der gemeinsamen Vertretung auf internationaler Ebene wie etwa in der Welthandelsorganisation (WTO).
Damit brüskierte May nicht nur jene 48 Prozent der Briten, die gegen den Brexit ge- stimmt hatten. Die Tatsache, dass außer Worten seit der Amtsübernahme Mays im vergangenen Juli nichts geschehen ist, verärgerte zunehmend auch die 52 Prozent der Brexit-Wähler. Wer in den letzten Wochen im Wahlkampf unterwegs war, konnte überall hören, dass die Briten den Brexit vielleicht nicht lieben, aber seine Umsetzung wollen würden. Der Worte sind indessen wahrlich genug gewechselt.
Festhalten am Brexit-Zeitplan
Nach ihrer Audienz bei der Queen, bei der sie den Regierungsauftrag erhielt, betonte May gestern das Festhalten an dem vereinbarten Brexit-Zeitplan mit Beginn der Verhandlungen am 18. Juni. In manchen Kreisen wurden gestern Hoffnungen gehegt, die Abfuhr für May sei auch eine Absage an einen harten Brexit. Nichts liegt der Wirklichkeit ferner. Stattdessen ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu keinem geregelten Abschied der Briten von der EU kommt, größer denn je. London weiß heute weniger denn je, was es tut. Aber die Uhr in Brüssel tickt unaufhaltsam.