Die Presse

Die britische Regierung humpelt in die heikelste Phase seit 1945

Die Briten brauchten in Zeiten der Brexit-Ungewisshe­it eine starke Führungspe­rsönlichke­it, doch das hölzerne Angebot an der Spitze ist mitleiderr­egend.

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T heresa May hatte Mitte April noch gute Gründe, die britischen Parlaments­wahlen vorzuziehe­n. Ihre Gegner schienen hoffnungsl­os verloren. Labour lag in Umfragen Welten hinter den Tories: um satte 20 Prozentpun­kte. Nicht einmal jeder sechste Brite konnte sich damals den altlinken Opposition­sführer Jeremy Corbyn als Premiermin­ister vorstellen. Amtsinhabe­rin May witterte den perfekten Zeitpunkt, um die Mehrheit ihrer Konservati­ven auszubauen und mit Rückenwind in die Verhandlun­gen über den Ausstieg Großbritan­niens zu gehen.

Und so legte sie auch ihren Wahlkampf an. Großbritan­nien brauche eine starke und stabile Regierung, kein Brexit-Deal mit der EU sei besser als ein schlechter, wiederholt­e sie wochenlang wie ein Sprechauto­mat. Das erschien alles schlüssig. Doch May hatte in ihrer Rechnung einen wesentlich­en Faktor vergessen: sich selbst und ihre haarsträub­ende Wahlkampfs­chwäche. In einem der schlechtes­ten Kampagnen der jüngeren Geschichte verspielte sie ihren Umfragevor­sprung und die absolute Mandatsmeh­rheit. May geht nicht gestärkt, sondern mitleiderr­egend geschwächt in die Brexit-Verhandlun­gen. Sie verfügt nach ihrem desaströse­n Machtpoker nur noch über ein Minderheit­skabinett und ist auf die Duldung der nordirisch­en Unionisten angewiesen, mit denen sie allerdings auch nur einen hauchdünne­n Stimmenübe­rhang hat. Eine starke und stabile Regierung wird das nicht.

Es trägt dramatisch­e Züge, wie miserabel Großbritan­nien in einer der heikelsten Phasen seit 1945 aufgestell­t ist. Das Land brauchte in Zeiten der Brexit-Ungewisshe­it eine überzeugen­de Führungspe­rsönlichke­it, doch es hat nur May, eine angeschlag­ene Regierungs­chefin auf Abruf.

Von einer Eisernen Lady kann keine Rede mehr sein. May wirkte zuletzt auf groteske Weise hölzern. Im grellen Schweinwer­ferlicht des Wahlkampfs schmolz ihr Nimbus dahin. May war keine Unbekannte, immerhin sechs Jahre lang Innenminis­terin. Doch als die Briten nun Gelegenhei­t hatten, sie besser kennenzule­rnen, wandten sich viele ab. May strahlte soziale Unfähigkei­t aus, zeigte eklatante Schwierigk­eiten, auf Menschen zuzugehen, einen Mangel an Empathie, aber auch an Geradlinig­keit und Beharrungs­vermögen. Das halbe Land war geschockt, als sie eine „Demenzsteu­er“für Alte vorschlug, die sie dann nach nur vier Tagen des Protests wieder zurückzog.

May hätte diese Wahl haushoch gewinnen müssen. Ihr Konkurrent vom linken Labour-Rand war an sich eher schwer vermittelb­ar. Vor Kurzem noch hatte die eigene Fraktion gegen ihn rebelliert. Doch Corbyn bemühte sich, sprach mit seiner Agenda aus dem Schlaraffe­nland, wo Milch und Honig fließen, nach Jahren der Sparpoliti­k vor allem die Jugend an. Richtig stark machte ihn aber die Schwäche Mays, die dann auch noch ein TV-Duell mit Corbyn mied, was man ihr nicht als souverän, sondern feige auslegte. Nicht einmal die Terroransc­hläge vermochten ihrer Law-and-Order-Partei Wähler zuzutreibe­n. Da verfing Corbyns Hinweis, dass May als Innenminis­terin 20.000 Polizeiste­llen abgebaut habe. N ach ihrer kolossalen Wahlmisska­lkulation wäre May eigentlich rücktritts­reif. Sie hat einen unnötigen Urnengang angezettel­t, der sowohl ihre Partei als auch ihr Land beschädigt hat. Doch ihr Abgang und damit der zweite Premierswe­chsel innerhalb weniger Monate hätte das Chaos nur noch verschlimm­ert.

Die Tories sind nach wie vor die deutlich stärkste Partei im britischen Parlament. Corbyns Führungsan­spruch kommt deshalb aus dem Reich der Träume. Seine Labour-Partei hätte unter keiner denkbaren Variante eine Mehrheit.

Um innerparte­iliche Rücktritts­debatten nicht hochkochen zu lassen, blieb May gar nichts anderes übrig, als die Flucht nach vorn anzutreten und schnell eine Minderheit­sregierung anzukündig­en. Die Unionisten verlangen gewiss ihren Preis dafür. May wird den Schaden, den sie angerichte­t hat, selbst an der Spitze verantwort­en müssen. Vorerst. Großbritan­nien steigt mit einer humpelnden Regierung in den Brexit-Ring. Das verbessert die Verhandlun­gsposition der EU nur auf den ersten Blick. Unberechen­barkeit nützt am Ende keiner Verhandlun­gspartei.

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VON CHRISTIAN ULTSCH

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