Der britische Bruder von Bernie Sanders
Porträt. Labour-Chef Corbyn versteht sich als „demokratischer Sozialist“. Seine Parolen zogen bei den Jungen.
Mit erhobenem Daumen quittierte Jeremy Corbyn den Wahlerfolg seiner Labour Party, den ihm zu Beginn des Wahlkampfs niemand zugetraut hatte – nicht einmal in den eigenen Reihen. Premierministerin Theresa May hatte den Oppositionsführer – wie alle Briten – nach Ostern mit der Ankündigung von Neuwahlen überrumpelt. Vom Boulevard heftig zerzaust und als Clown verspottet, präsentierte sich der abgeschriebene Labour-Chef in der Wahlnacht im Londoner Stadtteil Islington nach einer fulminanten Aufholjagd nun als Wahlsieger, der die Premierministerin zum Rücktritt aufforderte und sich als Chef einer Minderheitsregierung ins Spiel brachte.
In der Nachbarschaft gilt der 68-Jährige mit der Aura eines linken Lehrers, ein überzeugter Vegetarier, Abstinenzler und Radfahrer, als freundlich und hilfsbereit. Dass der Pazifist, der gegen den Falkland-Krieg Margaret Thatchers und den Irak-Krieg Tony Blairs zu Felde zog, die Atomrüstung ablehnt und Sympathien für die IRA und Terrorgruppen wie Hamas und Hisbollah hegte, je als Regierungschef in die Downing Street einziehen könnte, mochte sich die überwiegende Mehrheit der Briten indes bis vor Kurzem nicht einmal vorstellen. In der Labour Party war der deklarierte „sozialistische Demokrat“denn auch die längste Zeit ein mürrischer Hinterbänkler und Außenseiter, der Hunderte Male aus der Fraktionslinie ausscherte und den Blair als „Schlafwandler“punzierte.
Labour-Fraktion gegen linke Basis
Wie Bernie Sanders, sein US-Bruder im Geiste, lief Corbyn im Wahlkampf zu großer Form auf, den er inspirierter und leidenschaftlicher führte als Theresa May. Mit linken Parolen, der Forderung nach der Verstaatlichung früherer Staatsunternehmen wie Post und Bahn, der Abschaffung der Studiengebühren, dem Ende der Sparpolitik und dem Fokus auf soziale Gerechtigkeit elektrisierte der Ex-Gewerkschafter eine junge Klientel. Als Verfechter des National Health Service – der maroden Gesundheitsversorgung – sprach er vie- len Pensionisten aus dem Herzen, die der später zurückgezogene Vorschlag für eine sogenannte Demenzsteuer der Konservativen abgeschreckt hatte. Als EU-Skeptiker gewann er schließlich einen Gutteil der eher konservativen Ukip-Wähler, die vor einem Jahr für den Brexit votiert hatten.
Die Entscheidung für den EU-Ausstieg hatte Labour gespalten. Das Parteiestablishment warf Corbyn vor, nicht entschieden genug für den Verbleib in der EU eingetreten zu sein. Aus Protest gegen seinen Kurs trat ein Großteil seines Schattenkabinetts zurück, zwei Drittel der Labour-Fraktion sprachen ihm zudem das Misstrauen aus. Selbst der gerade zurückgetretene Premier David Cameron höhnte über den Oppositionsführer: „Um Himmels Willen, Mann. Gehen Sie.“
Doch Corbyn trotzte der Revolte. Bei einer Urwahl unter den Parteimitgliedern behielt er im Spätsommer 2016 neuerlich die Oberhand – wie im Jahr zuvor, als er sich von der Philosophie von New Labour verabschiedete. Seither motivierte er 200.000 Neumitglieder zum Eintritt in die Arbeiterpartei.