Transatlantische Tiefs
Europa und die USA. Manchmal wird uns Amerika fremd. Doch seit hundert Jahren ist eine Abkoppelung Europas von den USA undenkbar. Aus guten Gründen.
Europa und Deutschland haben mit Unverständnis und Entsetzen ein anderes Amerika wahrgenommen, ein ihnen unbekanntes und befremdliches Land des Nationalismus.“Dieser Satz wurde nicht nach den jüngsten Ereignissen rund um Präsident Trump geschrieben, sondern er stammt aus der „Zeit“vom 4. November 2004. Man war damals in der EU angesichts der Wiederwahl von George W. Bush entsetzt darüber, dass die USA sich sehenden Auges neuerlich zu diesem Präsidenten bekannten. Vom „Kalten Krieg“zwischen den USA und Europa sprachen manche und assoziierten die 1930er-Jahre, als die freie Welt angesichts einer totalitären Bedrohung Uneinigkeit gezeigt habe. Der Kampf gegen den Faschismus damals entsprach nun dem gegen den Terrorismus. Man erinnerte die USA an die 1940er-Jahre, als amerikanische Präsidenten klug und maßvoll eine transatlantische Brücke schlugen und eine neue Weltordnung mitbegründeten.
Nichts Neues unter der Sonne also. Transatlantischen Sprengstoff gab es in den vergangenen hundert Jahren immer wieder. Hochemotionelle Debatten, schrille Töne auf beiden Seiten des Atlantiks damals wie heute. „The US can go it alone“, so der Schlachtruf der Neokonservativen in der Bush-Administration, heute spricht man in Europa vom Ende des amerikanischen Zeitalters, von Abkoppelung und vom „Ausfall der USA als wichtiger Nation“(Sigmar Gabriel). Europe can go it alone, in der Sicherheitspolitik, dem Handel, dem Klimaschutz.
Doch die Suppe wird nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird. Die Frage, ob das Ende der europäisch-amerikanischen Partnerschaft gekommen sei, war stets übereilt, aus der Hitze der tagesaktuellen Krise heraus formuliert. Stärker waren auf lange Sicht doch die Brücken.
Mission Amerikas
„Wir haben die Welt gerettet“, verkündete ein moralisch inspirierter Präsident vor hundert Jahren, es war Woodrow Wilson, der sich am 6. April 1917 in das europäische Völkergemetzel, das zum Weltkrieg geworden war, einmengte. Er erreichte sein Ziel, im Krieg eine Wende herbeizuführen. An so etwas Prosaisches wie den sich daraus ergebenden Kollateralnutzen, nämlich den Aufstieg der USA zur führenden Weltmacht, mag der Idealist gar nicht gedacht haben. Auch von einem „Siegfrieden“hielt er nichts. Er erklärte seinem Volk, wer den Frieden sichern wolle, dürfe sich nicht auf ein „Gleichgewicht der Macht“stützen, sondern auf eine „Gemeinschaft der Macht“.
Nach zwanzig Jahren war das Friedenskonzept für Europa schon gescheitert, aber die Argumente, mit denen Wilson die USA damals aus der Isolation herausführte, blie- ben am Leben. Auf seine Ideen geht die Vorstellung von einer Mission Amerikas im Dienst einer globalen Ordnung, im Kampf gegen die dunklen Mächte zurück, und sei es mit militärischer Intervention. Am 6. Juni 1944 landete eine amerikanische Armada in der Normandie, um Europa von der NSHerrschaft zu befreien.
Die Gefahr, die von der hochgerüsteten Sowjetunion ausging, verband Europa und die USA über viele Jahrzehnte fest miteinander. Es kam während des Kalten Kriegs nie zu grundsätzlichen Zweifeln am Sinn der Allianz, die Gefahr schweißte die Partner zusammen und übertünchte die Unterschiede. Dass die USA einen hegemonialen Anspruch verfolgten, kam Europa zugute.
Doch mit schöner Regelmäßigkeit wurde der Schulterschluss von Protestbewegungen infrage gestellt. Das reichte von den grotesken Coca-Cola-Demonstrationen der französischen Weinbauern 1949 bis zum lautstarken Engagement Millionen europäischer Jugendlicher gegen den Militäreinsatz in Vietnam.
Vor allem in Deutschland reagierte die Öffentlichkeit sensibel auf die hochgerüsteten Waffenarsenale. 1979 fasste die Nato den „Doppelbeschluss“. Um die Sowjetunion zum Abrüsten zu bewegen, baute der Atlantikpakt ein eigenes Mittelstreckenraketensystem auf. Binnen weniger Jahre mobilisierte diese militärstrategische Maßnahme die deutsche Bevölkerung, es kam zu einem Revival der früheren „Ostermärsche“, fast eine halbe Million Menschen demonstrierte 1982 gegen Ronald Reagan bei seinem Staatsbesuch in Deutschland.
Nach den Protesten gegen den VietnamKrieg war dies ein Höhepunkt europäischer Intellektuellenkritik an den USA. Nicht selten kam von drüben die pikierte Replik: „Sie können es, weil sie unter dem Schirm des westlichen Kapitalismus stehen, der ihnen einen hohen Lebensstandard gibt, und unter dem Schirm des amerikanischen militärischen Potenzials, das sie vor denen, die sie bedrohen, schützt.“(Der Militärhistoriker Victor Davis Hanson).
Nüchterner sah man die Beziehung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Das Bedrohungsbewusstsein in Europa wurde geringer, die Schutzgemeinschaft verlor ihren Kitt. Der Fall der Berliner Mauer wurde mit den Worten des Historikers Dan Diner zum Hegel’schen Blitz, dessen Donner lang nachhallte: Erst jetzt wurden die Europäer gewahr, dass der Kalte Krieg die kulturellen Unterschiede zwischen den Partnern überdeckt hatte. Doch niemand befürwortete eine Abkoppelung Europas.
Das westliche Projekt
Allerdings wuchs der Druck, sich an der Lösung internationaler Herausforderungen aktiv zu beteiligen, nicht nur diplomatisch und finanziell, sondern auch militärisch. Das provozierte Spannungen zwischen den Bündnispartnern, deren europäischer Teil sich nun herausgefordert sah, sich an den Kämpfen um das zerfallende Jugoslawien und am Hindukusch zu beteiligen. Die Europäer mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, dass drei Stunden von Berlin weg auf dem Balkan eine Viertelmillion Menschen abgeschlachtet wurden, ohne dass man sich zu einem Eingreifen durchringen konnte.
Der Konflikt eskalierte 2003, als George W. Bush ohne ausdrückliche Ermächtigung durch den UNO-Sicherheitsrat und gegen den Willen einiger europäischer Staaten den Krieg im Irak begann, um den Diktator Saddam Hussein zu stürzen. Tony Blair schlug für Großbritannien den Weg einer „special relationship“ein. Franzosen und Deutsche standen auf der anderen Seite. Für sie war der Irak-Krieg ein Verbrechen, oder – um Joseph Fouche´ zu zitieren – schlimmer als ein Verbrechen: ein Fehler. Die Stümperei bei der Befriedung des Irak in der Folge gab ihnen im Nachhinein recht.
Der Historiker Heinrich August Winkler hat seine monumentale „Geschichte des Westens“gerade zur richtigen Zeit zu Ende gebracht. Der „Westen“ist für ihn mehr als eine Weltgegend, er ist ein „normatives Projekt“, in dem in der Tradition von Christentum und Aufklärung Menschenrechte, Rechtsstaat und repräsentative Demokratie ihre Ausprägung erfahren haben. Mag die militärische und ökonomische Macht des Westens auch immer größer geworden sein, seine wahre Sprengkraft entfalte er mit seinen immateriellen Stärken, seinen Werten.
Es liegt in der Natur eines „Projekts“, dass es Rückfälle und Entgleisungen gibt, sogar vorübergehend völlige Abkehr vom westlichen Projekt. Die Diktatur Napoleons war im Ursprungsland der Aufklärung, faschistische Regime gab es in Italien, Spanien, Deutschland. 228 Jahre nach Inkrafttreten der amerikanischen Verfassung muss die Herrschaft des Rechts offenbar nun neu verteidigt werden, auf beiden Seiten des Atlantiks, in Washington genauso wie in Ungarn und Polen. Freilich erscheint es unsicher, ob Massenarbeitslosigkeit und Massenmigration die hehren Werte des westlichen Projekts unversehrt überleben lassen. Dieser US-Präsident wird jedenfalls nur eine Fußnote in der Geschichte sein.