Richard Wall: Der rostige Nagel der Revolution
Die konvertible Touristenwährung CUC schuf ein Zweiklassensystem: Kubaner, die Trinkgelder in CUC bekommen, gehören zur Oberschicht.
Zehen steigen, ist man in der Fundacion´ Alejo Carpentier mit den himmelblau gestrichenen Türen unter sich. Wir werden von einem jungen Mann höflich empfangen, so als hätten wir uns mit ihm verabredet. Er führt uns kommentierend und erklärend durch die Räume. Nebst einem Schreibtisch mit Schreibmaschine und Schreibutensilien sind Fotos, Bücher, Plakate (unter anderen eines vom Suhrkamp Verlag) zu sehen.
Cienfuegos in der Jagua-Bucht,
„Perle des Südens“genannt: In der Nacht hat es stärker abgekühlt als in den vergangenen Tagen, Himmel größtenteils bewölkt, graue Wolkenschleier. Kinder gehen, laufen zur Schule, die Mädchen in weinroten oder milchkaffeebraunen Röcken und weißen Blusen, die Buben in kurzen Hosen in den genannten Farben und weißen Hemden. Schon seit Tagesanbruch die Rufe der Straßenverkäufer, die ihre Runden drehen: ein Pfiff aus der Trillerpfeife, dann wird das angebotene Produkt ausgerufen, „Melonen, Kochbananen!“, „frisches Brot!“. Die riesige, mit unterschiedlichen Bäumen – so auch mit der Königspalme – bepflanzte Plaza Marti, stets peinlich sauber gehalten, wird vormittags eher zum Durchqueren als zum Sitzen, Spielen und Plaudern benützt.
Auf das frühe Treiben blicke ich vom Balkon des Taller des Lum´ınicos. Diese Bezeichnung erinnert an Jose´ de Jesu´s Mach´ın Torres, einen findigen Leuchtreklameproduzenten, der weit über Kuba hinaus Geschäfte tätigte und nach der Revolution enteignet wurde. Er hatte das Haus im Stil der funktionalistischen Moderne 1948 erbaut. Nun vermietet seine Tochter, Marilu, die halbtags in einer Bank arbeitet, ein Zimmer. Sie ist schlank und zierlich, ihr Mann ein hünenhafter, muskelbepackter Mathematikprofessor an der Uni. Er wurde schon mehrmals zum „Mister Cienfuegos“und einmal sogar zum „Mister Kuba“gekürt.
Für das Kennenlernen
der Stadtviertel Miramar und Vedado in Havanna – in den Fünfzigerjahren in der Hand der Mafia, die riesige Hotels bauen ließ – haben wir uns zumindest zwei Tage vorgenommen. Sie unterscheiden sich aufgrund ihrer jüngeren Bausubstanz – Villen mit Gärten, Hochhäuser und Hotelanlagen mit großzügig angelegten Auffahrten, wehenden Fahnen auf rhythmisch gesetzten Lanzen von Fahnenstangen und Swimmingpools – wesentlich von Habana Vieja und Centro Habana. Auf einer Anhöhe irritiert eine riesige tellerförmige Anlage mit betongesäumtem Grün und Kreisverkehr: die Plaza de la Revolucion;´ Blickfang ist, neben einem Denkmal für Jose´ Mart´ı – es stellt den Vordenker der Unabhängigkeit Kubas in einer knienden Körperhaltung dar –, der 108 Meter hohe Turm mit fünfzackigem Grundriss, ein weithin sichtbares Zeichen.
Auf geschwungenen Treppen zum Monument hinaufsteigend, sprechen wir über die offensichtlichen Beweggründe, die derartige Anlagen entstehen lassen: Wir einigen uns auf Machtanspruch und Größenwahn. Und: Wird der bescheidene Dichter und Freiheitskämpfer Mart´ı nicht missbraucht, wenn man ihm in diesem Kontext huldigt? Das Verblüffende: Die Anlage wurde nicht, wie man meinen könnte, von den Kommunisten angelegt, sondern stammt aus vorrevolutionärer Zeit! Vom Dach des Museums, am Fuße des Obelisken, hat man Sicht nach allen Seiten: Blickfang ist unter anderem das Innenministerium mit dem Porträt von Che und dem populär gewordenen Ausspruch „Hasta la victoria siempre!“(Immer bis zum Sieg!), angeblich einem Zitat aus dem Abschiedsbrief an Fidel, als Che Havanna Richtung Kongo verließ.
Centro Habana ist nicht gerade
eine Luxusgegend. Offene Türen und Fenster geben den Blick frei auf Handwerksläden und Reparaturwerkstätten, Hochschulen der Improvisation: Elektrisch betriebenes Werkzeug ist selten vorhanden. Im Parterre und in den Eingängen einst stattlicher Häuser wird in winzigen Läden verkauft, was man selber nicht benötigt oder entbehren kann. Von rostigen Nägeln bis zu Haushaltsgeräten, recycelt wird nahezu alles, und ich sehe Männer, die auf ihren Fahrradanhängern eine hoch aufragende Fuhre mit Pappkarton zum Wiederverwerten karren. Wäre nicht der abseits der Touristenmeilen und -zentren sich häufende Verpackungs- und Plastikmüll und wären nicht die ungefilterten Abgase aus den Verbrennungsmotoren der Autos, könnte man Kuba für eine Hochburg des ökologischen Handelns halten. In einer Gasse, die, da Rohrleitungen für Wasser und Abwasser verlegt werden, abgesperrt ist, spielen Buben mit Begeisterung Fußball. Daneben, auf der besonnten Hälfte der stillgelegten Fahrbahn, hat ein älterer Herr mit nacktem Oberkörper ein Fahrrad auf Sattel und Lenkgabel gestellt und das Vorderrad abmontiert, wohl zum Zwecke, einen Patschen zu beheben. Er steht mit dem Rad in einer Hand auf der gegenüberliegenden Schattseite bei einer Frau, um mit ihr zu plaudern.
Der Anblick des Rades erinnert mich an meine Malaise im Westen Kubas, auf der Hochebene von Vin˜ales, wo angeblich der beste Tabak der Welt gedeiht. Nach dem Aufsteigen von Nebelschwaden aus den Feldern der Frühe waren wir bei herrlichem Licht mit Fahrrädern unterwegs. Streckenweise auf weglosem Gelände, Zäune waren zu überklettern, und die Fuhrwege hatten oft lehmige und tiefe Spurrinnen. Die Tabakernte war in vollem Gang, und wir erhielten einen fundierten Einblick in das Trocknen und Fermentieren der Blätter in den mit Palmblättern gedeckten, fensterlosen, aber luftigen Hütten, „casas de tabaco“. Hier erfährt man, wie viel Zeit und Mühe für das Pflanzen, Ernten und Trocknen von Tabak aufzuwenden sind. Wenn die Blätter an Feuchtigkeit verlieren, werden sie wieder eine Stange höher unter das Dach gehängt. Danach müssen sie fermentiert werden, um gleichmäßige Qualität und Färbung zu erzielen. Angeblich stecken in einer Qualitätszigarre 300 Arbeitsschritte. Zwei Tage vor dem weltweit begangenen Nichtrauchertag wurde übrigens kürzlich, am 29. Mai, in Kuba der Tag der Tabakarbeiterinnen und Tabakarbeiter gefeiert.
Gegen Ende der Rundfahrt, die aus der Position eines kreisenden Truthahngeiers eher die Form einer Schleife mit vielen kleinen Schlingen gehabt haben dürfte, lockte uns ein Wegweiser in ein Seitental, hinauf zu einem See, der Laguna de Piedra. Nach einer schweißtreibenden Auffahrt bot sich, mit Blick auf die Lagune, ein Restaurant als Rastplatz an; es galt den mittlerweile respektablen Bierdurst zu löschen. Leider gab es kein „Bucanero“, sondern nur das dünnere „Imperial“. So nebenbei erhielten wir Einblick in das Verarbeiten eines geschlachteten Schweines a` la Cubana (das Einpökeln und Selchen kennt man nicht; damit das Fleisch in der Hitze nicht verdirbt, muss alles, was nicht in einer Kühltruhe untergebracht werden kann, gebraten oder gekocht werden).
Als wir wieder aufbrechen wollten, stellte sich heraus, dass das Vorderrad meines Bikes luftlos im Schotter stand. Nun begann ein gut und gern zwei Stunden dauernder Handlungsablauf: Die beiden Männer, eben noch mit der Sau beschäftigt, nahmen sich der Panne an. Sie demontierten das Rad und zogen den schwarzen schadhaften Schlauch wie ein Saugedärm ans grelle Nachmittagslicht, tauchten ihn und den Rest Luft darin in einen flugs herbeigeholten Kübel mit Wasser. Das Loch wurde über aufsteigende Luftblasen neben dem Ventil geortet. Was nun? Zum Picken des Lochs war nichts vorhanden. Da kam ein junger schlanker Mann auf seiner „coche“angetrabt, einem zweirädrigen Wägelchen mit vorgespanntem Pferd. Es folgte ein Wortwechsel, und ehe ich begriffen hatte, wurde das Rad auf das Wägelchen gelegt, und ab ging die Post.
„Adonde?“´ So meine Frage. Der Herr des Hauses, Sau-Sachverständiger und oberster Pannenhelfer, nannte einen Ort hinter den Bergen im benachbarten Tal. Nach etwa einer Stunde – ich trank inzwischen noch ein Bier, meine Gefährtin hatte bereits den Rückweg nach Vin˜ales angetreten – kam der Bursche mit Pferd und „coche“wieder um die Kurve. Auf dem Wägelchen lag das aufgepumpte Rad. Im Handumdrehen war das Rad wieder zwischen die Backen der klemmenden Bremse geschoben und in der Gabel festgeschraubt. Der Junge verlangte fünf CUC, die er in der Werkstätte bezahlt hatte, ich gab ihm sieben. Die beiden Männer, die mit der Montagearbeit beschäftigt waren, ließen sich nicht einmal auf ein Bier einladen, sie wären beleidigt gewesen. Pura vida!
In den Casas Particulares
– wir frequentierten im Verlaufe unserer Reise kein einziges Hotel – gab es zum Frühstück stets reichlich frische Früchte wie Ananas, Bananen, Guave, Papaya, Mangos, dazu wurden Spiegeleier, Fruchtsäfte und Kaffee – übrigens erstklassig – serviert. In Tausenden Gärten im Stadtgebiet Havannas werden Gemüse und Früchte angebaut, Geflügel wird an allen möglichen Stellen, in den Ruinen und auf Hausdächern, gehalten. Es gab kaum einen Tag auf Kuba, an dem ich in der Frühe nicht das Krähen eines Hahnes vernommen hätte. In den Küstenregionen – Cienfuegos, Playa Larga, aber auch in Trinidad und Havanna – stehen Fisch, Garnelen und Langusten auf der Speisekarte, auch die Schweine-, Schafund Rindfleischgerichte, stets frisch zubereitet, zumeist mit „moros y cristianos“und Salat serviert, schmecken vorzüglich, mit Gewürzen wird leider gespart, obwohl fliegende Händler, die auf ihren Fahrrädern bis zum Boden reichende Zwiebel- und Knoblauchzöpfe transportieren, zum beinahe täglichen Anblick gehören. – Mir unvergesslich das tägliche Musizier- und Musikerlebnis in den Bars und Restaurants zur Nachtzeit (um 18 Uhr wird es schlagartig dunkel). Über Tonträger vermittelt, hat mich die kubanische Musik nie sonderlich interessiert (den Film „Buena Vista Social Club“habe ich seinerzeit gesehen, sonst aber ging der Hype an mir vorüber). Von Rumba über Salsa bis zu Jazz bekamen wir einiges von sehr guten Bands zu hören. Die Musikerinnen und Musiker spielen nicht nur, sondern sie sind der jeweilige Rhythmus, das jeweilige Lied; der ganze Körper ist in Bewegung. Kurzum, kubanische Musik ist ein höchst dynamisches, erotisches und mitreißendes Erlebnis, vielleicht die sinnlichste Quintessenz Kubas, ein Elixier, dem sich wohl kaum jemand, so er nicht verstockt und verkrampft durchs Leben geht, entziehen kann.
Das Leben vieler Habaneros
in den Ruinen der Altstadt ist ebenfalls ein Aspekt, der nicht zu übersehen ist (Antonio Jose´ Ponte hat dem Phänomen in dem Essay „Der Ruinenwächter von Havanna“kritisch nachgespürt). Es gibt zwar keine Slums, aber so manche Wohnsituation dürfte nicht weit entfernt davon sein; dennoch, Infrastruktur (Wasser, Strom et cetera) ist vorhanden. Das Klima ermöglicht letztlich ein halbwegs angenehmes Leben, Eigeninitiative ist nun ohnehin gefragt. Allerdings schaffen der Tourismus und die Tourismuswährung CUC ein Zweiklassensystem: Kubaner, die irgendwie mit Touristen zu tun haben, bekommen die CUC (Peso Convertible, 1 CUC = ungefähr 1 Euro), die unverhältnismäßig mehr Wert haben: 1 CUC = 25 kubanische Pesos, jene Währung, mit der der Staat seine Angestellten bezahlt. Für eine Nacht in einer der Casa Particulares zahlten wir 25 bis 35 CUC. Ein Lehrer bekommt diesen Betrag in einem Monat als Peso Cubano, etwa 600 CUP. Die Bezahlung dürfte für alle Staatsangestellten ungefähr gleich sein. Ein Nationalparkangestellter in der Sierra Escambray erzählte uns, dass er im Monat umgerechnet 25 CUC verdiene. Allerdings ist er insofern in einer glücklichen Lage, als er nach den Führungen Trinkgeld in CUC bekommt – in einer Höhe, die wahrscheinlich sein staatliches Gehalt deutlich übersteigt.
Kuba ist in Bewegung und vermag zu bewegen; lässt vieles erleben, was einen in Hochstimmung versetzt – im nächsten Moment die Irritation, Bedenkliches. Mit Gewohntem zu vergleichen lässt sich nicht vermeiden, dennoch habe ich in meinem Streifzug versucht, Erfahrungen und Beobachtungen eher zu schildern als diese zu bewerten.