„So viel Welt als möglich“
Wilhelm von Humboldt – dem preußischen Staat diente er 18 Jahre als Beamter und Diplomat, doch es genügten nur 15 Monate als Sektionschef des Innenministeriums, dass er als wichtigster deutscher Bildungsreformer und Gründer der Berliner Universität bis heute unsere Bildungsdiskussionen bestimmt und unsere Gemüter erhitzt. Auch wenn kaum jemand behaupten kann, all seine zahlreichen Schriften, Essays und Memoranden sowie seine mittlerweile auf 17 Bände angeschwollene Werkausgabe gelesen zu haben, so ist sein Name vor allem bei Fragen der Bildung identitätsstiftend und eignet sich allemal als Projektionsfläche für die je eigenen Wünsche. Dass Humboldt, geboren vor 250 Jahren, auch als Anthropologe, Altertumsforscher und Übersetzer des Aischylos wie als Sprachphilosoph Bedeutendes geleistet hat – das wurde erst in den vergangenen Jahrzehnten bekannt.
Wilhelm von Humboldt und sein zwei Jahre jüngerer Bruder, Alexander, werden zuerst durch ihre Lehrer, später in den literarischen Salons von den Ideen der Aufklärung geprägt. Der Vater stammt aus einer Familie preußischer Offiziere und Höflinge. Den Reichtum und das Schloss Tegel, in dem die Brüder aufwachsen und das Humboldt später von Karl Friedrich Schinkel in ein klassisches Gebäude umbauen lässt, bringt die Mutter mit. Wilhelm ist elf Jahre alt, als sein geliebter Vater stirbt. Mit ihm gehen Lachen, menschliche Wärme und Leichtigkeit verloren. Zurück bleiben die Kinder mit ihrer kühlen Mutter und dem strengen Lehrer Johann Gottlob Christian Kunth.
Beide Brüder beklagen später in ihren Briefen die Einsamkeit und Lieblosigkeit, die Kälte ihrer Mutter. Freunde zum Spielen und Herumtoben gibt es nicht. Nur Lernen unter ständiger Aufsicht. Kunth erstellt einen umfassenden Lehrplan: Physik, Geografie, Botanik, Griechisch, Latein, Französisch – Sprachen, die Wilhelm schon mit 13 fließend spricht –, Mathematik, Philosophie, Ökonomie. Mit 18 publiziert Wilhelm seine erste Schrift: „Sokrates und Plato über die Gottheit“. Darin wundert er sich, dass selbst im Zeitalter der Aufklärung viele „nicht räsonniren, sondern ,glauben‘ wollen“. Vier Jahre später fordert er in seiner Abhandlung „Über Religion“eine strikte Trennung von Kirche und Staat. 40 Jahre später wird er als preußischer Bildungschef das Schulwesen den Armen der Kirche entreißen.
Kunth nimmt die Brüder bald in die Berliner Salons mit. Nach der „Öde und Langeweile“ihrer Kindheit erleben Wilhelm und Alexander erstmals die neue Empfindsamkeit und die gleichberechtigte Rolle von Juden und Frauen. Im Salon der Henriette Herz trifft Wilhelm die Liebe seines Lebens, die gebildete Caroline von Dacheröden, seine spätere Frau, mit der er eine ungewöhnliche Ehe führen wird, in der sich beide Partner die größtmögliche Freiheit lassen.
An der weltoffenen Universität in Göttingen studiert Wilhelm neben Rechtswissenschaften die alten Sprachen, insbesondere Griechisch beim Altertumsforscher Christian Gottlob Heyne, weiters Physik bei Lichtenberg, der ihn als „den hellsten Intellektuellen“, den er jemals getroffen hat, bezeichnet. Bruder Alexander macht sich Sorgen um den Tag und Nacht studierenden Wilhelm: „Er wird sich totstudieren, mein Bruder. Er hat jetzt alle Werke von Kant gelesen und lebt und webt in seinem Systeme.“ EVA PFISTERER Geboren in Linz. 1980 bis 1987 Wirtschaftsredakteurin bei der „Arbeiter-Zeitung“, 1987 bis 2010 Wirtschaftsredakteurin beim ORF („Zeit im Bild“). Kuratorin der Waldviertel Akademie. Generalsekretärin der Austrian European Journalists. nach Humboldt gezwungen ist, sich selbst im Austausch mit der Umwelt zu bilden, ist auch Mannigfaltigkeit, also eine anregungsreiche Umgebung, erforderlich. Denn selbst der freieste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus. Da Bildung ein offener Prozess ist, kann das, was Bildung ist, nicht normativ bestimmt werden. Humboldt nennt jedoch das Ziel: eine harmonische Persönlichkeit, die nicht Gleichförmigkeit, sondern Individualität erkennen lässt. Das Ideal für diese Ausgewogenheit, die Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft, sieht Humboldt bei den Griechen. Sein anthropozentrischer Bildungsbegriff ist zu dieser Zeit ausgesprochen revolutionär. Nicht mehr Gott wie in der Mystik des Mittelalters oder wie noch bei den Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts sollte Maßstab der geistig seelischen Formung sein, sondern das Individuum, der Mensch selbst.
Da Bildung sich als Prozess ununterbrochen in der reflektierten Aneignung mit der Welt vollzieht und verändert, kann Humboldt auch keinen Katalog wie „Alles, was man wissen muss“erstellen. Der Mensch solle sich jedoch bemühen, „so viel Welt als möglich zu ergreifen und so eng, als er nur kann, zu verbinden“. Zu dieser Zeit gibt es niemanden in Deutschland – außer Humboldt –, der sich so sehr auf die Freiheitsrechte des Individuums fokussiert. Im Mittelpunkt steht der Mensch, der nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen und seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen will. Bei den Kräften der Natur spielt Humboldt auch auf den Bildungstrieb an, den er von seinem Lehrer an der Universität Göttingen, Johann Friedrich Blumenbach, übernimmt. Bildung ist eine angeborene Formkraft, die die Natur durchdringt. Daraus folgt, schreibt Humboldt mit 21 in einem Brief an Georg Forster, dass „der wahren Moral erstes Gesetz ist: Bilde dich selbst, und nur ihr zweites: Wirke auf andere durch das, was du bist“.
Der Geist braucht jedoch auch Gegenstände, an denen er sich bildet, die direkte Anschauung – so wie Humboldt ins Baskenland fährt, um dort das Baskische zu studieren. Bei der Reform des Bildungswesen besteht Humboldt denn auch darauf, dass die Gegenstände des Unterrichts die „geistigen Grundkräfte des Menschen herausfordern“. Das Verständnis der Welt erschließe sich auch Kindern primär über Wissensinhalte: „Sie sollten das Verständnis anregen, die Anschauung und das Gefühl vertiefen.“Kern des Bildungsprozesses nach Humboldt ist also eine „Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“. Gebündelte Denkkraft findet Humboldt bei Goethe und Schiller in Jena. „Er weckt jede schlummernde Idee. Im Gespräch mit ihm entwickeln sich alle meine Ideen glücklicher und schneller“, schreibt Schiller über seinen Freund.
Zweifelsohne entfalteten die Philosophen der Aufklärung, allen voran John Locke und Voltaire, Diderot, Holbach, d’Alembert und Rousseau, eine geistige Schubkraft für die Revolution. Nicht so in Deutschland. Dort waren Napoleon und die Niederlage Preußens Auslöser für die Reformen. Die Idee der Menschenbildung liegt in dem um seine Nationswerdung ringenden Deutschland in der Luft. Es brauchte jedoch einen Menschen, der die Aufklärungsphilosophen nicht nur intensiv gelesen hat, sondern der diese Ideen in die Tat umzusetzen versucht. Dieser Mann der Tat war Humboldt! Als Preußen neben dem Staatswesen auch das Bildungswesen reformieren will, ruft ihn Freiherr von Stein auf Anweisung des Königs 1808 aus seinem geliebten Rom zurück. Humboldt ziert sich. Der König besteht auf