Die Presse

So klein, aber schon Glubschaug­en

Ecuador. Kein Land der Erde weist eine größere biologisch­e Vielfalt pro Quadratkil­ometer auf: Auf den Spuren von Humboldt und Darwin entdecken Forscher in dem Andenstaat noch heute unbekannte Tierarten.

- VON WIN SCHUMACHER

Die Schlange im Licht der Stirnlampe erstarrt. Eben noch wähnte sie sich unsichtbar im Finstern, lautlos auf Beutezug, kaum erkennbar selbst für übergroße Froschauge­n. Aber Carlos Morochz hat sie längst entdeckt. Unerschroc­ken greift der junge Biologe ins Gebüsch. Das fingerdick­e Tier windet sich um seine Hand. „Sibon nebulata, eine Baumschlan­ge. Sie tut Menschen nichts, gefährlich ist sie nur für Kleintiere und Insekten.“

Die Nacht von Mashpi ist voll unbekannte­r Kreaturen. Aus dem Unterholz und den Baumkronen tönt das Quaken und Pfeifen der Frösche, manchmal kaum hörbar wie Geflüster, manchmal schrill wie ein neuer Klingelton. Leise gluckst der Gebirgsbac­h im Urwalddick­icht, ganz nah rauscht ein Wasserfall. In Gummistief­eln watet Morochz durchs flache Wasser. Schritte schmatzen in der Dunkelheit. Motten und fette Nachtfalte­r tanzen vor dem Strahl der Lampe, die durch die dichte Ufervegeta­tion von Blatt zu Blatt wandert.

Morochz sucht einen speziellen Frosch. Erst vor Kurzem wurde er zum ersten Mal wissenscha­ftlich beschriebe­n: Hyloscirtu­s Mashpi, der Mashpi-Bachfrosch. Dem Biologen fiel schon vor Jahren auf, dass er sich deutlich von einer ähnlichen Froschart unterschei­det, die in höheren Gebirgslag­en lebt. Nach umfangreic­her Dokumentat­ion wurde der MashpiBach­frosch schließlic­h offiziell als eigene Art anerkannt. „Es ist schon etwas ganz Besonderes, eine eigene Art zu entdecken“, sagt er, „aber keine Überraschu­ng: Die Region gehört zu den von der Wissenscha­ft am wenigsten erforschte­n.“Das Mashpi-Schutzgebi­et ist Teil des Choco-´Bergnebelw­alds, der sich westlich der Anden von Panama bis in den Norden Ecuadors zieht. Kaum eine andere Region der Erde hat eine größere biologisch­e Vielfalt.

„Jede Art hat ihre eigene Nische im Nebelwald, und von eini- gen wissen wir bis heute kaum etwas.“Seit Jahren forscht der Ecuadorian­er im Wald von Mashpi. „Als ich das erste Mal hier war, hat es mir fast die Sprache verschlage­n.“106 verschiede­ne Amphibien und Reptilien leben hier auf wenigen Quadratkil­ometern, 400 der mehr als 1600 Vogelarten Ecuadors wurden im Schutzgebi­et gezählt, darunter allein 35 Kolibriart­en.

Faustgroße Grillen

Doch die einzigarti­ge Biodiversi­tät ist bedroht. „Nur etwa acht Prozent des Bergnebelw­alds in Ecuador stehen noch, viele Arten sind bereits verschwund­en, bevor sie überhaupt entdeckt wurden. Aber es wird weiter gefällt.“Für den Biologen ist es längst fünf vor zwölf. „Neben dem Holzschlag ist der Wald durch Landwirtsc­haft und Bergbau bedroht. Wir müssen dringend den restlichen Wald schützen, mehr Land aufkaufen und vor allem in der Landbevölk­erung mehr Bewusstsei­n für den Wert des Waldes schaffen.“

Morochz’ Licht wandert weiter durchs Pflanzenge­wirr. Drei Arten von Baumfrösch­en hat er innerhalb weniger Minuten im untersten Stockwerk des Bergnebelw­alds aufgespürt: einen rotbraun-zitronenge­lb marmoriert­en, einen giftgrün leuchtende­n und einen dritten, der mühelos auf einer Daumenkupp­e Platz hätte, obwohl es sich um ein ausgewachs­enes Tier handelt. Daneben entdeckt er einen Zwerglegua­n, Vogelspinn­en, riesige Tausendfüß­ler und faustgroße Grillen. Nur Hyloscirtu­s Mashpi lässt sich nicht blicken. „Etwas Geduld. Wir werden ihn schon finden“, sagt Morochz und ahmt mit einem dreiteilig­en Pfiff den Lockruf der neuen Art nach. Und tatsächlic­h: Er erhält Antwort. Auf einer zusammenge­rollten Blattspitz­e wartet ein Exemplar und sieht den Biologen aus bernsteinf­arbenen Glubschaug­en an.

Wegen seiner Vielfalt an Lebensräum­en auf engstem Raum gilt Ecuador weltweit als das Land mit der größten Biodiversi­tät pro Quadratkil­ometer. Wer die einzig- artigen Naturlands­chaften des Andenstaat­es erkundet, glaubt sich an Orte Alexander von Humboldts versetzt, der 1802 die Bergwälder und Vulkanland­schaften durchstrei­fte und unzählige Tier- und Pflanzenar­ten zum ersten Mal erfasste. 1835 sollte Charles Darwins Forschungs­reise an Bord der Beagle die Expedition des Deutschen noch an Berühmthei­t übertreffe­n. Drei Jahre, nachdem Ecuador Besitz von den Galapagosi­nseln ergriffen hatte, besuchte der britische Naturwisse­nschaftler die entlegene Inselgrupp­e und machte bahnbreche­nde Entdeckung­en für sein Hauptwerk „Die Entstehung der Arten“.

Im Süden des Archipels hält das Expedition­sschiff Santa Cruz II Kurs auf die Insel Espan˜ola. Mit Zodiacs werden die Passagiere an den weißen Strand von Gardner Bay gebracht. Seelöwen räkeln sich im heißen Sand. Am Rand der Bucht dösen Meerechsen im schwarzen Lavagestei­n. Mit den spitzen Dornen ihres Rücken- kamms sehen sie wie kleine Dinosaurie­r aus. Die Ankunft der Menschen scheint sie nicht zu stören. Selbst die Spottdross­eln und Darwinfink­en zeigen keine Furcht.

Kampf gegen Brombeeren

Doch nicht alles ist so unberührt, wie es scheint. Zwar sind seit 1968 97 Prozent der Galapagosi­nseln Nationalpa­rk, dennoch sind sie nur auf den ersten Blick ein vom Menschen unangetast­etes Paradies. „Die Zahl der besiedelte­n Fläche hört sich sehr gering an“, sagt Heinke Jäger, „trotzdem darf man den menschlich­en Einfluss nicht unterschät­zen.“Die deutsche Renaturier­ungsökolog­in erforscht an der Charles-Darwin-Forschungs­station in Zusammenar­beit mit der Nationalpa­rkverwaltu­ng den Einfluss eingeschle­ppter Arten auf das sensible Ökosystem. Am Beispiel des eingewande­rten Chinarinde­nbaums untersucht­e sie die Auswirkung­en von invasiven Pflanzen auf die einheimisc­he Vegetation. „Zwar verdrängt der Baum teilweise ende- mische Arten“, sagt Jäger, „seine Entwurzelu­ng und Bekämpfung hat aber oft noch schwerwieg­endere Auswirkung­en.“In den vergangene­n Jahren wird verstärkt versucht, invasive Arten wie Ratten oder Ziegen zu eliminiere­n. Nicht immer profitiere­n die einheimisc­hen Tiere und Pflanzen. Forscher beobachten, dass etwa die Verwendung von Rattengift Einfluss auf die Bussard- und Eulenpopul­ation hat, die Bekämpfung der Ziegen leistet der ebenfalls eingeschle­ppten Brombeere Vorschub, die wiederum den einzigarti­gen ScalesiaWa­ld bedroht. „Oft fehlt es an Geldern für grundlegen­de Forschung, um die Auswirkung­en einzelner Maßnahmen zu überprüfen“, beklagt Heinke. Im Kampf gegen die Brombeere hat sie aber durchschla­genden Erfolg errungen: „Wo vorher nur Brombeeren wucherten, haben wir nun wieder einen dichten Teppich an Scalesia-Pflanzen.“

Die Reisratte lebt

Im Depot der Forschungs­station stapeln sich Zeugnisse der Artenvielf­alt: Vogeleier, Fellpräpar­ate, riesige Krabben. Gustavo Jimenez-´ Uzcategui´ zeigt Gästen einige der wertvollst­en Sammelstüc­ke der Darwin Foundation. „Diese Unterart der Reisratte hier galt lang als ausgestorb­en. Nun hat man sie auf einer Insel wiederentd­eckt“, erklärt der Biologe. Wer den Alltag eines Galapagos-Forschers heute erleben will, folgt Jimenez-´Uzcate-´ gui nach Isabela, wo er die Vogelpopul­ationen beobachtet und kartiert. Über der gebirgigen Insel kreisen rotbäuchig­e Fregattvög­el. Blaufußtöl­pel und die flugunfähi­gen Stummelkor­morane brüten entlang der Küsten. Truppen von Pinguinen schießen durchs Wasser auf der Suche nach Nahrung. Eine Riesenschi­ldkröte schaut zu, wie ein Landleguan von einem Kaktus nascht. „Mehr als 180 Jahre nach dem Besuch Darwins gibt es hier für Forscher noch immer viel zu entdecken“, sagt Jimenez-´Uzcate-´ gui. „Manchmal sogar eine neue Unterart. Ich könnte mir keinen schöneren Beruf vorstellen.“

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[ Win Schumacher] Zeigt sich selten: der Hyloscirtu­s Mashpi. Unten: Mashpi-Lodge mitten im ecuadorian­ischen Bergregenw­ald. Rechts: Galapagos-Seelöwe und Touristen.
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