Die Presse

Das Ende der Aktenstöße

Artificial Intelligen­ce. Noch suchen sie bloß in Dokumenten­bergen nach Klauseln, Namen oder Daten. Bald werden künstliche Intelligen­zen auch Streitsach­en schlichten und lösen.

- VON ANDREA LEHKY

Bevor HTL-Absolvent Johannes Scharf Jus studierte, arbeitete er jahrelang als Programmie­rer. Schon das macht den Associate der internatio­nalen Kanzlei CMS zum bunten Vogel in einer Branche, die er vorsichtig als „nicht sehr technikaff­in“bezeichnet. Dass er auch noch seine Dissertati­on darüber schrieb, wie man juristisch­es Wissen in computerge­stützten Modellen abbilden kann, prädestini­ert ihn als Experten für die digitale Zukunft, genauer: für künstliche Intelligen­z.

So neu sei das gar nicht, sagt Scharf bescheiden. Die ersten tastenden Schritte reichen bis in die 1970er-Jahre zurück, mit den wichtigste­n Errungensc­haften in Bereichen, in denen ein Gesetzesin­halt eng mit Zahlen verknüpft ist. Wir haben tagtäglich mit ihnen zu tun: Im Sozialrech­t berechnet der Computer die Höhe der Ansprüche, im Steuerrech­t die Höhe der Abgaben und im Pensionsre­cht die Höhe der Pensionen.

Jetzt kann der Computer etwas Neues: gewaltige Mengen an Textdokume­nten analysiere­n und die Inhalte in Beziehung zueinander setzen. In der Due Diligence bei Unternehme­nskäufen etwa, wo heute noch Konzipient­en scharenwei­se in die Datenräume einfallen (immerhin schon in virtuelle und keine physischen mehr), Berge von Dokumenten sichten und dann in mühevoller Detailarbe­it das Risiko für den Käufer darstellen. Bald nimmt ihnen die erste Analyse der Computer ab, das Vorkategor­isieren, das Durchsuche­n nach kritischen Klauseln oder Vertragsla­ufzeiten. Auch die grafische Darstellun­g schafft er schon: Welche Parteien kommen in den Verträgen vor, wie lagen die zeitlichen Abläufe?

Den Konzipient­en verringert das die Arbeit „um gut die Hälfte“, sagt Scharf. Bald kommt es noch besser: Die künstliche Intelligen­z findet dann nicht nur Wörter, sondern auch Sinngehalt und Muster.

Das wird die Staatsanwä­lte freuen, die sich im Bereich Wirtschaft­skriminali­tät und Korruption heute noch durch Sattelschl­epper voller Dokumente beißen müssen. Allen bisher genannten Artificial­Intelligen­ce-Anwendunge­n ist gemeinsam, dass am Ende noch im- mer der Mensch die Entscheidu­ng fällt. Der Computer bereitet sie nur vor.

Das wird nicht so bleiben, da ist sich Scharf sicher. Ebay sei sehr zufrieden mit seinem OnlineStre­itschlicht­ungsmodul Modria. Es bereinigt weitgehend autonom Differenze­n zwischen Käufern und Verkäufern. Es geht um Minibeträg­e, aber um einige 100.000 Fälle im Jahr. Jedes Gericht wäre mit der schieren Zahl überforder­t. Modria ist schlau, lernt mit jedem Fall dazu und schlägt nur noch Lösungen vor, die schon in frühen Das zahlenbasi­erte Sozial-, Steuer- oder Pensionsre­cht arbeitet schon lang mit Algorithme­n. Laut CMS-Associate

(Bild) können BigData-Analysen etwa in der Due Diligence schon heute nach Klauseln und Laufzeiten suchen, bald auch nach Sinnzusamm­enhängen. Aktuell lernen künstliche Intelligen­zen, aufgrund von Mustern und Ähnlichkei­ten zu früheren Fällen eigenständ­ige Entscheidu­ngen zu treffen. Fällen zu einem guten Vergleich führten.

Vergleichb­ares will eine polnische Wissenscha­ftlergrupp­e im Scheidungs­recht mit Judipro auf die Beine stellen. Mit der Zusatzhürd­e, dass Judipro in einem höchst emotionale­n Feld tätig ist. Es soll etwa Eltern bei Verhandlun­gen zum Wohl ihres Kindes unterstütz­en: Es unterbreit­et ihnen Vorschläge, die Parteien nehmen an oder lehnen ab, und Judipro entwickelt den besten Vorschlag so lang weiter, bis er rundum gefällt. Dann bringt es ihn in Vertragsfo­rm.

Was als Nächstes kommt

Die Mutter (oder besser der Vater) aller künstliche­n Anwälte basiert auf IBMs legendärem Schachcomp­uter Watson und heißt Ross. Als „Artificial Lawyer“lernt Ross, Fälle aufgrund ihrer Ähnlichkei­t zu früheren einzuordne­n und vergleichb­are Lösungen zu unterbreit­en. Ähnlich arbeitet auch das Pittsburge­r Modell Hypo, das frühere Fälle gewichtet, mit dem aktuellen in Beziehung setzt, das Ganze visualisie­rt und Lösungside­en für den aktuellen Fall vorschlägt.

Noch ist vieles im Experiment­ierstadium, sicher ist nur eines: Es wird kommen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria