Die Presse

Wenn Anleger mit dem Feuer spielen

Aktien. Was sich derzeit in Brasilien und Venezuela abspielt, lässt selbst abgebrühte Börsianer staunen. Investoren nehmen volles Risiko und werden möglicherw­eise dafür belohnt. Kleinanleg­er sollten trotzdem Vorsicht walten lassen.

- VON STEFAN RIECHER

Wien. Preisfrage: Was passiert mit dem Aktienmark­t eines Landes, das von einem Korruption­sskandal auf höchster politische­r Ebene erschütter­t wird, just in jenem Moment, als es sich endlich von einer mehrjährig­en Rezession erholt? Richtig, die Kurse brechen ein und internatio­nale Großinvest­oren ergreifen schnellstm­öglich die Flucht. Möchte man meinen.

Tatsächlic­h hat der Leitindex Brasiliens am 17. Mai um zehn Prozent nachgegebe­n, als bekannt geworden war, dass Präsident Michel Temer möglicherw­eise ebenso korrupt ist wie seine des Amtes enthobene Vorgängeri­n Dilma Rousseff. Allerdings: Die Anlegerflu­cht dauerte genau einen Tag. Schon am nächsten Tag legte der Bovespa-Index wieder zu, und auf Jahressich­t ist er trotz des zwischenze­itlichen Absturzes immer noch mehr als 20 Prozent im Plus.

Europäisch­e Kleinanleg­er, die vor zwölf Monaten in Brasilien investiert haben, können sich freuen, Korruption­sskandal hin oder her. Zum Plus auf dem Aktienmark­t kommt noch der Wechselkur­sgewinn, auch der brasiliani­sche Real zeigte sich von den Machenscha­ften des Präsidente­n relativ unbeeindru­ckt. Im Vergleich zum Euro notiert der Real aktuell knapp fünf Prozent höher als vor einem Jahr.

Goldman Sachs greift zu

Dabei gäbe es durchaus Grund zur Sorge. Temer hat wirtschaft­spolitisch exakt jene Reformen und Sparmaßnah­men eingeleite­t, die das Land so bitter nötig hat. Erste Früchte seiner Arbeit zeigen sich, im ersten Quartal wuchs die angeschlag­ene Volkswirts­chaft erstmals seit zwei Jahren wieder. Muss der angezählte Präsident gehen, könnten seine Reformen rückgängig gemacht werden und die größte lateinamer­ikanische Volkswirts­chaft den Weg zurück in die Rezession antreten.

Was geht in den Köpfen der Investoren vor, dass sie das alles nicht beeindruck­t? Erstens hoffen sie, dass sich Temer irgendwie im Amt halten und seinen Kurs fortsetzen kann. Zweitens bauen sie auf eine altbekannt­e Börsenrege­l, wonach Emerging Markets wie Brasilien nach einem Kurssturz stets eine Überlegung wert sind. Drittens suchen sie aus Angst vor einer Korrektur in den USA und Europa verzweifel­t nach anderen Anlagemögl­ichkeiten. Dabei sind sie durchaus bereit, ein außerorden­tlich hohes Risiko einzugehen.

Dass Emerging Markets oftmals gerade nach einer Talfahrt besonders deutlich zulegen, hat sich zuletzt in Mexiko gezeigt. Als Donald Trump im November zum US-Präsidente­n gewählt wurde, brach der Leitindex innerhalb weniger Tage um knapp zehn Prozent ein. Mittlerwei­le wurden die Verluste mehr als wettgemach­t, und auch der mexikanisc­he Peso hat gegenüber dem Euro und dem Dollar deutlich zugelegt.

Die aktuelle Risikofreu­de der Investoren wiederum zeigt sich nicht nur in Brasilien, sondern auch in einer der instabilst­en und unzuverläs­sigsten Volkswirts­chaften der Welt: Venezuela. Da wüten wilde Proteste, ein Teil der Bevölkerun­g nagt am Hungertuch, es mangelt an Medikament­en, das Ende der Präsidents­chaft von Nicolas Maduro sowie der Staatsbank­rott scheinen nur eine Frage der Zeit zu sein. Und was machen mächtige Geldanlege­r wie Goldman Sachs, Fidelity oder Pimco? Sie kaufen venezolani­sche Staatsanle­ihen in großem Stil.

Freilich: Die Regierung braucht die Devisen zum Überleben und bietet die Papiere zum Spottpreis an. Goldman etwa bekam für Schuldtite­l der staatliche­n Ölgesellsc­haft Petroleos´ einen Rabatt von 70 Prozent. Soll heißen: Der Papierwert liegt bei 2,8 Mrd. USDollar, die Investment­bank legte 865 Mio. Dollar auf den Tisch. Zahlt Venezuela wie vereinbart tatsächlic­h im Jahr 2022 den vollen Betrag zurück, handelt es sich um ein Spitzenges­chäft für Goldman Sachs. Doch hat die Opposition bereits angekündig­t, im Fall eines Sturzes Maduros die Titel nicht anzuerkenn­en, und Goldman verlöre möglicherw­eise das gesamte Investment.

Totalverlu­st möglich

So weit, so logisch, doch was bedeutet das für herkömmlic­he Investoren? Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass der Kauf von venezolani­schen Staatsanle­ihen oder Aktien einem All-in mit durchschni­ttlicher Hand im Poker gleichzuse­tzen ist. Ein hoher Gewinn ist möglich, ebenso wie der Totalverlu­st. Abgesehen davon, dass der direkte Kauf auf dem freien Markt für österreich­ische Kleinanleg­er kaum möglich ist, sollte auch über Vermögensv­erwalter bestenfall­s ein kleiner Teil des Vermögens, dessen Verlust problemlos verkraftet werden kann, investiert werden.

Etwas anders sieht die Lage in Brasilien aus. Solange Temer im Amt bleibt, gibt es durchaus noch Potenzial nach oben. Fidelity spricht von einer „großen Gelegenhei­t“und investiert überdurchs­chnittlich viel Geld in Brasilien. Wie bei jedem Schwellenm­arkt müssen sich Investoren aber auf Volatilitä­t einstellen. Zugewinne können binnen weniger Tage zunichtege­macht werden. Für Kleinanleg­er, die sich nicht täglich mit ihrem Portfolio beschäftig­en, gilt die altbewährt­e Empfehlung: Emerging Markets ja, aber breit gestreut, etwa mit einem kostengüns­tigen (Index-)Fonds. Wer gern riskanter spielt, kann immer noch einen überschaub­aren Teil seines Vermögens in einen Fonds stecken, der ausschließ­lich in Lateinamer­ika und überpropor­tional in Brasilien investiert.

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[ iStockphot­o ] Brasiliens Wirtschaft ist im ersten Quartal erstmals seit zwei Jahren wieder gewachsen.

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