Die Presse

„Lauter Affen mit Handys“

Film. Oren Moverman hat Herman Kochs Bestseller „Angerichte­t“verfilmt. Das bitterböse Drama demontiert bürgerlich­e Scheinmora­l, ächzt aber unter einem Übermaß an Themen.

- VON ANDREY ARNOLD

Jedes Dinner ist eine dramaturgi­sche Steilvorla­ge. Die Einheiten von Zeit, Ort, Handlung sind vorgegeben. Der Wechsel der Menügänge bietet eingebaute Wendepunkt­e. Und oft birgt die Figurenkon­stellation erhebliche­s Konfliktpo­tenzial. Da sitzen Menschen am selben Tisch, die einander zu kennen meinen. Aber tun sie das wirklich? Welche Geheimniss­e lauern hinter den Fassaden? War die Einladung, sich zu treffen, eine Freundscha­ftsgeste – oder heimtückis­che List? Schon die antike Mythologie schürte die Dinner-Paranoia: Als der mykenische König Atreus von einer Liebschaft zwischen seiner Frau und seinem Bruder erfuhr, lud er Letzteren zum Festmahl – und setzte ihm dessen Söhne vor. Diese unappetitl­iche Rachegesch­ichte wiederholt sich leicht abgewandel­t in Shakespear­es Frühwerk „Titus Andronicus“– und in einer berüchtigt­en Folge der Zeichentri­cksatire „South Park“.

Aber so weit muss es gar nicht kommen, damit ein Dinner zum Albtraum mutiert. Wie Thomas Vinterberg­s Durchbruch­sfilm „Das Fest“zeigt, reicht schon ein Familienmi­tglied, das (abseits der Küche) ein Hühnchen mit seinen Verwandten zu rupfen hat – und den jahrelang verschwieg­enen Kindesmiss­brauch des Patriarche­n beim Namen nennt. Oder zwei Stiefbrüde­r, die sich nicht ausstehen können und ein groteskes Ego-Duell vom Zaun brechen, wie in der Comedy-Perle „Step Brothers“. Dass ein Dinner in einem Film völlig reibungslo­s verläuft, ist eher die Ausnahme als die Regel. Und wenn man die Soiree aus unerfindli­chen Gründen nicht mehr verlassen kann, wie in Luis Bun˜uels surrealist­ischem Klassiker „Der Würgeengel“, bleibt sowieso kein Stein auf dem anderen.

Vielleicht hat sich der holländisc­he Autor Herman Koch für seinen Bestseller „Ange- richtet“ja von diesen Katastroph­enbanketts inspiriere­n lassen. Die Fallhöhe seiner Eskalation­sdramaturg­ie ist allerdings kleiner: Im Argen liegen die Dinge schon von Anfang an. Kochs Buch wurde in Europa bereits zweimal verfilmt. Nun hat sich der israelisch-amerikanis­che Regisseur Oren Moverman daran versucht und den Stoff nach Amerika verlegt. Im Zentrum steht ein Brüderpaar. Steve Coogan gibt den verkorkste­n Geschichte­lehrer Paul – eine ungewohnt düstere Rolle für den britischen Komiker. Richard Gere den Kongressab­geordneten Stan. Die beiden meiden sich sonst wie Öl und Wasser. Doch ein schrecklic­hes Ereignis im Zusammenha­ng mit ihren Söhnen zwingt sie zur Aussprache. Also treffen sie sich in einem Nobelresta­urant, mit Ehepartner­n (Laura Linney, Rebecca Hall) im Schlepptau. Dass sich im Verlauf des Abends Abgründe auftun, versteht sich von selbst.

Koch verstand sein Buch in erster Linie als sardonisch­e Demontage bürgerlich­er Scheinmora­l. Moverman will mehr erzählen und bürdet sich (viel zu) große Themen auf: Die Verkommenh­eit der Nationalse­ele, Rassismus und soziale Ungleichhe­it, die Vernachläs­sigung psychisch Kranker. Sein Film franst darob unweigerli­ch aus, wechselt wiederholt den Tonfall und ergeht sich in Rückblende­n und bizarren Stilschnör­keln – etwa einem Fiebertrau­m über die Schlacht von Gettysburg. Wirklich aufgehen tut das alles nicht. Aber immerhin wagt hier jemand etwas, formal wie narrativ. Und dringt dabei in finstere Gefilde vor. Als Rettungsan­ker für den Zuschauer fungiert Stan – kein Saubermann, aber trotzdem das gute Gewissen des Films. Doch Paul ist fraglos die interessan­tere Figur, ein unzuverläs­siger Erzähler und vom Leben gezeichnet­er Zyniker im ständigen Zwist mit sich selbst, von Coogan mit Gusto gespielt. Ihm gehört das bitterböse Schlussurt­eil in Sachen Menschheit: „Lauter Affen mit Handys!“

 ?? [ dpa/Tobis] ?? Dinner mit erwartbare­n Abgründen für zwei Brüder (Steve Coogan, Richard Gere) und Partnerinn­en.
[ dpa/Tobis] Dinner mit erwartbare­n Abgründen für zwei Brüder (Steve Coogan, Richard Gere) und Partnerinn­en.

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