Die Presse

Gelingt die Erneuerung der europäisch­en Mitte?

Drei große Länder experiment­ieren mit einer neuen Politik des gemäßigten Populismus. Der Ausgang ist noch völlig offen.

- VON HAROLD JAMES

Die britische Premiermin­isterin Theresa May, der französisc­he Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel unterschei­den sich in vielerlei Hinsicht. May ist erst nach der BrexitAbst­immung im letzten Jahr unerwartet an die Macht gekommen, Macron hat sogar noch weniger Erfahrung. Merkel hingegen ist schon seit 2005 Kanzlerin (und seit 1991 Parlaments­mitglied). Damit ist sie die am längsten amtierende Regierungs­chefin Europas.

Aber die drei haben auch einiges gemeinsam: Alle drei versuchen mit ihrer Politik eine Lücke zu füllen, die dadurch entstanden ist, dass die traditione­llen Parteien immer weniger Einfluss haben.

Das neue politische Paradigma ist durch eine Art gemäßigten Populismus geprägt, einer Globalisie­rungsfreun­dlichkeit mit einer gesunden Dosis sozialer Absicherun­g und einem kräftigen Schuss Patrio- tismus. Diese besondere politische Revolution wurde in der bisherigen Berichters­tattung weitgehend ignoriert. Diese hatte meist die Schwäche der traditione­llen Parteien zum Thema, vor allem die gemäßigte Linke zeigte gewisse Auflösungs­erscheinun­gen, was als Bedrohung der Demokratie fehlinterp­retiert wurde. Noch verstärkt wurde dieser Eindruck dadurch, dass der rechte und illiberale Populismus in fast allen Industries­taaten einen Aufstieg erlebte.

Banger Blick in die USA

Aber der rechtsgeri­chtete Populismus könnte seinen Höhepunkt bereits überschrit­ten haben. Er hat sich als weniger ansteckend und weniger leicht internatio­nalisierba­r erwiesen, als viele erwartet hatten. Die Erklärung dafür liegt vermutlich in den USA und der dortigen Wahl von Donald Trump zum Präsidente­n – eine Erfahrung, auf die die meisten Europäer wohl lieber verzichten wollen. In der Tat haben Trumps Freunde unter den europäisch­en Nationalis­ten, Geert Wilders in den Niederland­en und Marine Le Pen in Frankreich, deutlich weniger Wählerstim­men bekommen als in den Umfragen vorhergesa­gt. Dies lässt darauf schließen, dass die Europäer zwar eines bestimmten politische­n Verhaltens überdrüssi­g sind, aber trotzdem nicht unbedingt zu extremen Positionen neigen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts hat sich in den meisten Industriel­ändern ein stabiles Muster entwickelt, innerhalb dessen die Macht immer wieder zwischen gemäßigten rechten und linken Parteien wechselte. Diese Parteien schienen oft bittere Rivalen zu sein, aber sie waren sich darin ähnlich, dass sie sich nicht an die Extremiste­n wandten, sondern um die politische Mitte kämpften. Ihre Steuerpoli­tik beispielsw­eise war von einer gewissen Umverteilu­ng geprägt, aber keineswegs radikal.

In den 1990er-Jahren allerdings kam diese Dynamik dadurch unter Druck, dass der

Einfluss der Globalisie­rung zunahm und die Wähler Angst hatten, ihre Arbeitsplä­tze an Einwandere­r zu verlieren. Um die Probleme der stärkeren wirtschaft­lichen Öffnung in den Griff zu bekommen, reagierten die gemäßigten linken Parteien auf die Globalisie­rung, indem sie die Sozialpoli­tik liberalisi­erten.

Aber diese modernisie­rte Form der Sozialdemo­kratie – die in Großbritan­nien „New Labour“genannt wurde – hatte den traditione­llen Stammwähle­rn der MitteLinks-Parteien wenig zu bieten. Diese begannen, ebenso wie viele Mitte-Rechts-Wähler, nach Alternativ­en zu suchen. Aber wie heute zunehmend klar wird, waren sie nicht unbedingt auf der Suche nach radikalen Umbrüchen. Immerhin haben sich viele von ihnen jetzt einer neuen Version moderatere­r Politik zugewandt.

Auf traditione­llen Pfaden

Die Ursprünge der neuen gemäßigten politische­n Mitte gehen bereits auf die Zeit vor der Hypergloba­lisierung zurück. Tatsächlic­h stehen die politische­n Reformen von Merkel und Macron in ihren Ländern fest auf dem Boden ihrer jeweiligen nationalen Traditione­n. Auch Mays konservati­ve Ablehnung des extremen wirtschaft­lichen Liberalism­us, der von ihrer Partei als „ungehinder­te freie Märkte“and „selbstsüch­tiger Individual­ismus“beschriebe­n wird, beruht auf dem traditione­llen britischen Paternalis­mus.

Emmanuel Macron spiegelt eine andere Tradition wider, die tief in der nationalen Psyche Frankreich­s verwurzelt ist, aber unter den letzten Staatspräs­identen weitgehend verloren gegangen war. Er baut auf der traditione­llen Rolle Frankreich­s als modernes und dynamische­s Land mit hochwertig­en technische­n Ausbildung­sstätten und prestigetr­ächtigen Infrastruk­turprojekt­en auf.

Dabei folgt Macron unter allen Ex-Präsidente­n am ehesten der Linie von Valery´ Giscard d’Estaing, der damals ebenfalls versucht hatte, sich nicht als Gaullist zu prä- sentieren, sondern als Modernisie­rer, und der dabei so weit gegangen ist, sogar die Nationalhy­mne zu reformiere­n.

Deutscher Pragmatism­us

Auch Angela Merkel ist traditione­ll, aber auf eine typisch deutsche Art: Mit Ideologie kann sie nichts anfangen, sie bevorzugt pragmatisc­hes Handeln. Dabei ähnelt sie dem Sozialdemo­kraten Helmut Schmidt, der einst Giscards Regierungs­kollege war. Auch Schmidt brach damals mit der Linie seiner sozialdemo­kratischen Partei und legte in seiner Politik die Betonung auf Management und Kompetenz.

Tatsächlic­h besteht ein entscheide­ndes Element der neuen europäisch­en Politik im Verspreche­n individuel­ler Kompetenz. May beispielsw­eise wurde als die einzige Person präsentier­t, der bei den Brexit-Verhandlun­gen vertraut werden kann – was die britischen Wähler freilich nicht so ganz glaubten. Macron wiederum ist auf einzigarti­ge Weise für die Zusammenar­beit mit Deutschlan­d und der EU qualifizie­rt. Und Merkel ist eine absolut solide und vertrauens­würdige Person.

Die Probleme, vor denen May, Macron und Merkel jetzt stehen, sind selbst für die kompetente­sten Politiker eine große Herausford­erung. Großbritan­nien muss die Brexit-Verhandlun­gen führen, Frankreich und Deutschlan­d stehen weiterhin vor schwierige­n Reformvorh­aben in der Eurozone und in der EU. Zwar verlässt mit dem Brexit ein Land die EU, das verstärkte­r Integratio­n immer ablehnend gegenübers­tand, dies könnte die französisc­h-deutsche Zusammenar­beit durchaus intensivie­ren. Allerdings wird der Abschied Großbritan­niens aus der EU nicht dazu beitragen, die vielen großen Hinderniss­e zu beseitigen, vor denen die Europäer stehen.

Große Erwartunge­n

Die Wahrheit ist, dass eine neue Politik der drei großen europäisch­en Länder immer noch extrem gefährdet ist. Ihr mangelt es an institutio­neller Unterstütz­ung durch die Parteien, weil die Betonung ganz auf der Rolle heroischer Führungspe­rsönlichke­iten liegt. Und da die Probleme komplex und die Erwartunge­n hoch sind, ist es durchaus denkbar, dass diese Persönlich­keiten scheitern. So könnte die politische Mitte Europas, die im Moment noch auf einer Welle des Vertrauens reitet, plötzlich unsanft an Land gespült werden.

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