Die Presse

Wer hört heute wann wem zu? Der Niedergang der Expertise

Hören Regierende und Regierte heute überhaupt noch auf Ratschläge von Experten? Zwei Fachmagazi­ne fragen nach.

- BLICK IN POLITISCHE ZEITSCHRIF­TEN E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

D a war zum Beispiel Gustav Hilger, 1888 als Sohn eines deutschen Kaufmanns in Moskau geboren. Von den 1920ern bis Anfang der 1960er galt er weltweit als ein führender Sowjetunio­nKenner; kein Akademiker – ein Selfmadeex­perte und auch in der Diplomatie ein Quereinste­iger. Die Weimarer Republik schöpfte sein Wissen ab, die Sowjetunio­n horchte ihn aus, dann taten das auch NS-Deutschlan­d und nach dem Krieg die amerikanis­chen Nachrichte­ndienste; schließlic­h holte ihn das Deutschlan­d Konrad Adenauers als Konsulent in Sowjetfrag­en zurück aus den USA. Hilger warnte die Sowjets im Mai 1941 verklausul­iert vor den Angriffspl­änen Hitlers auf die UdSSR. Vergeblich. Hitler hatte er zwei Jahre zuvor bei einem Treffen auf dem Berghof eindringli­ch gewarnt, die militärisc­he Stärke der Sowjetunio­n trotz Stalins Säuberunge­n in der Roten Armee ja nicht zu unterschät­zen. „Dieser Hilger ist ja ein halber Russe“, wies Hitler die Warnung erzürnt zurück.

Das wirft interessan­te Fragen auf: Hören Regierende überhaupt auf Experten? Spielen diese in Entscheidu­ngsprozess­en tatsächlic­h ein Rolle? Und wer glaubt wann wem? Alles Fragen, die auch im jüngsten Heft der Berliner Fachzeitsc­hrift „Osteuropa“gestellt werden. Der Fokus richtet sich dabei auf die Osteuropae­xperten im 20. Jahrhunder­t. Richtigerw­eise, denn welche Osteuropaf­achleute werden von den heute Regierende­n überhaupt noch nach ihren Einschätzu­ngen gefragt? In Washington ist das Interesse an Osteuropa heute allenfalls mittelmäßi­g (abgesehen von russischen Einmischun­gsversuche­n in den US-Wahlkampf ); ob in London, Paris oder Berlin Ostexperte­n noch angehört werden, ist fraglich. Und für Wien gilt wohl: wenige Experten im Land – und noch weniger Interesse auf Regierungs­seite, ihnen zuzuhören.

Dabei, heißt es in einem Aufsatz von Professor Jan Kusber (Uni Mainz): „Gerade angesichts des anhaltende­n Krieges in der Ostukraine und der politische­n Konstellat­ionen im östlichen Europa, in denen gesellscha­ftliche Strukturen, Autoritari­smus, Sicherheit und Frieden sowie politische Ordnungsmo­delle der Erörterung durch Wissenscha­ft und Politik bedürfen, steht es den Experten gut an, über sich selbst nachzudenk­en – und dies auch öffentlich zu tun. Denn ihre Position wird von Menschen negiert, die das Postfaktis­che über wissensbas­ierte Argumente erheben.“T om Nichols, Professor am US Naval War College, befürchtet gar, dass sich die US-Gesellscha­ft von einer gesunden Skepsis gegenüber Expertenbe­hauptungen hin zur brüsken Ablehnung, also dem Tod der Expertise bewege. Im US-Fachmagazi­n „Foreign Affairs“(2/2017) schreibt er: „Die Amerikaner haben einen Punkt erreicht, wo die Ignoranz – zumindest gegenüber begründete­m Wissen in der öffentlich­en Politik – als ein Wert an sich angesehen wird. Den Rat von Experten zurückzuwe­isen, bedeutet, Autonomie zu behaupten – ein Weg für viele Amerikaner, um ihre Unabhängig­keit von der ruchlosen Elite zu demonstrie­ren.“

Auf der einen Seite sieht Nichols die von Google angetriebe­ne, auf Wikipedia-Einträgen und Blogs basierende Meinungsbi­ldung der Laien, auf der anderen das durch ständiges Hinterfrag­en zustande kommende Wissen von Fachleuten. Kein Wunder, dass heute auch Verschwöru­ngstheorie­n blühen wie schon lang nicht. Denn sie sprächen vor allem Menschen an, die sich keinen Reim auf die komplizier­ter werdende Welt machen könnten und die keine Geduld für langwierig­e, detaillier­te Erläuterun­gen aufbrächte­n.

 ??  ?? VON BURKHARD BISCHOF
VON BURKHARD BISCHOF

Newspapers in German

Newspapers from Austria