Putin hat auf Nawalny keine andere Antwort als Repression
Analyse. Oppositionsführer Nawalny suchte am „Tag Russlands“die Konfrontation. Die Polizei reagierte rigoros.
Moskau/Wien. „Russland wird frei sein, Russland wird frei sein“, riefen die Demonstranten, als die Polizisten sie umrundeten und den Ring um sie schlossen. Sie selbst waren es bald nicht mehr. Sie wurden abgeführt von Spezialkräften der Einheit Omon, ausgerüstet mit Helmen, Splitterschutzwesten und Armschonern, abtransportiert in den als „Awtosak“berühmt-berüchtigten Polizeibussen, mit ungewissem Schicksal. In Moskau nahmen Tausende teil. Bis zum Nachmittag wurden dort mehr als 400 Menschen festgenommen; in St. Petersburg sprachen die Organisatoren von mehr als 300 Abgeführten.
Oppositionsführer Alexej Nawalny hatte am Montag, dem „Tag Russlands“, zu einem landesweiten Antikorruptionsaktionstag gerufen, eine Wiederholung der Aktion von Ende März, als in vielen russischen Städten unerwartet viele junge Menschen auf die Straßen gingen, rund 1000 von der Polizei in Gewahrsam genommen und in einer Handvoll Fällen bereits Haftstrafen ausgesprochen wurden. Nawalny selbst wurde am Vormittag von der Polizei aus seinem Haus weg festgenommen. „Alles Gute zum Feiertag“, schrieb er noch schnell auf Twitter.
Kundgebung kurzerhand verlegt
Der langjährige und äußerst internetaffine Antikorruptionsaktivist, der eine Teilnahme an der Präsidentenwahl im März 2018 plant, hatte am Vorabend zur Aktion über soziale Medien seine Anhänger in Moskau dazu aufgefordert, sich auf der anlässlich des Feiertags verkehrsberuhigten Twerskaja-Straße zu versammeln, und nicht am Sacharow-Prospekt, wo eine von den Behörden genehmigte Kundgebung hätte stattfinden sollen. Der 41-Jährige hatte die Entscheidung mit dem Argument begründet, dass jene Firmen, die für Bühne und Tonsystem verantwortlich waren, unter Druck der Behörden ihre Mitwirkung abgesagt hätten: „Wir sind bereit zu Kompromissen, aber wir lassen uns nicht demütigen.“Nawalny kennt die russischen Sicherheitskräfte gut genug, um zu wissen, dass es kein beschaulicher Spaziergang im Zentrum der Hauptstadt werden würde.
Nawalnys Schwenk wurde anderntags, als es zu dramatischen Szenen in Moskau kam – Schüler, die von Uniformierten abgeschleppt werden, Schlagstöcke gegen Demonstranten –, in Oppositionskreisen durchaus kontrovers diskutiert. Gleichzeitig ent- stand der Eindruck, dass die Teilnehmenden sich des Risikos bewusst waren – und bereit waren zur Konfrontation mit der Polizei.
Den 12. Juni hat Nawalny bewusst gewählt: Er gedenkt der Unabhängigkeit Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion und gilt als Nationalfeiertag. Während die Stadtverwaltung Moskau die Bürger zu Aufführungen historischer Szenen unter Teilnahme von kostümierten Mönchen und Rittern lockte, verteidigten die Oppositionsanhänger das „wahre“Russland gegen seine als korrupt kritisierte Elite. Auf den landesweiten Protestmärschen waren zahlreiche RusslandFahnen zu sehen. Nawalny hat sich schon immer als patriotischer Aktivist verstanden, der zum nationalen Wohls Russlands handelt. In seiner Wahlkampagne für 2018, „Es ist Zeit zu wählen“, setzt er ganz auf dieses Narrativ.
Korruption Mächtiger bloßgestellt
Er stellt die Mächtigen bloß – etwa in den jüngsten, im Netz populären Video-Reports seines Fonds zum Kampf gegen Korruption, die offenlegen, dass Premier Dmitrij Medwedjew zahlreiche Luxusimmobilien besitzt. Linkisch schweigen die Betroffenen zu den Vorwürfen. „Wir fordern Antworten“, lautet daher eine Parole. „Putin – tritt ab!“, „Schande“, „Diebe“– Sprüche wie diese hörte man zuletzt in der Protestwelle von 2012, nun werden sie wieder gerufen, von blutjungen, offenbar furchtlosen Protestierenden.
Bugsiert man Demonstranten in „Awtosaks“, werden die Straßen wieder leer: Das ist die Gleichung der Sicherheitskräfte. Das Dilemma des Kreml ist, dass er keine anderen Antworten hat. Mit der Kriminalisierung all jener, die bereit sind, für eine transparente Politik und einen Rechtsstaat einzutreten, befördert man die soziale Zuspitzung. Klar, die Unmutsäußerung ist punktuell, lokal, ungeordnet. Aber Nawalny bekommt unfreiwillig Stoff geliefert. Es war wohl nicht seine letzte Aktion vor den Präsidentenwahlen.