Die Presse

Brüssel verschärft Ton in Asylfrage

Flüchtling­saufteilun­g. Die Kommission eröffnet Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegenüber Polen, Ungarn und Tschechien, um die unionsweit­e Verteilung von Flüchtling­en voranzubri­ngen.

- VON OLIVER GRIMM UND WOLFGANG BÖHM

Brüssel/Wien. Lange hat es sich angekündig­t, nun wird es damit Ernst: Die Europäisch­e Kommission ist in der Frage der Umsiedlung von Asylwerber­n in Griechenla­nd und Italien mit ihrer Geduld gegenüber den Regierunge­n von Polen, Ungarn und Tschechien am Ende und ergreift rechtliche Schritte. Morgen, Mittwoch, wird die Brüsseler Behörde beschließe­n, Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen die Regierunge­n der drei Staaten zu eröffnen.

„Entscheidu­ngen über Vertragsve­rletzungen werden im Paket beschlosse­n, und Sie wissen, dass das nächste Paket am Mittwoch beschlosse­n werden soll“, sagte Kommission­ssprecher Alexander Winterstei­n am Montag bei der täglichen Pressekonf­erenz der Kommission.

Ein Dementi hört sich anders an, und in der Tat liegt die Eröffnung eines Rechtsverf­ahrens ge- gen die drei Staaten der Visegrad-´ Gruppe spätestens seit dem „Spiegel“-Interview von Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker in der Luft. „Wir werden uns nächste Woche mit der Frage beschäftig­en müssen, ob wir deshalb Vertragsve­rletzungsv­erfahren einleiten oder nicht. Die Entscheidu­ng ist noch nicht getroffen, aber ich sage: Ich bin dafür“, sagte Juncker. Es gehe ihm darum, „deutlich zu machen, dass getroffene Entscheidu­ngen geltendes Recht sind, auch wenn man dagegen gestimmt hat. Hier geht es um europäisch­e Solidaritä­t, die keine Einbahnstr­aße sein darf. Da muss sich der Verkehr in beide Richtungen bewegen.“

Ungarische Totalverwe­igerung

Die Weigerung von Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen, den Beschluss zur Aufteilung von Flüchtling­en umzusetzen, hat die Handlungsf­ähigkeit der Union infrage gestellt. Juncker hatte das Verhalten der Visegrad-´Länder be- reits mehrfach kritisiert und sie dafür verantwort­lich gemacht, dass die EU derzeit „in keinem guten Zustand“sei.

In zwei Ratsbeschl­üssen vom September 2015 hatten sich die Mitgliedst­aaten auf eine Umverteilu­ng von 160.000 Asylwerber­n geeinigt, die in Italien und Griechenla­nd gestrandet sind und unter zum Teil katastroph­alen Verhältnis­sen hausen. Die Visegrad-´Staaten hatten nicht nur gegen diese per Mehrheitsb­eschluss entschiede­ne Umverteilu­ng votiert, sie weigerten sich danach auch, den Beschluss umzusetzen. Ungarn und die Slowakei klagten sogar beim Europäisch­en Gerichtsho­f. Ungarn müsste nach dem Beschluss 1294 Flüchtling­e aufnehmen, die Slowakei 802. Bis heute hat Ungarn keinen einzigen Flüchtling aus den südeuropäi­schen EU-Ländern übernommen, die Slowakei lediglich 16. Polen hat sich ebenso wie Ungarn gänzlich verweigert, Tschechien hat zwölf übernommen. Erst vergangene Woche beschloss das tschechisc­he Parlament, bis zum Auslaufen des Programms im September keine weiteren Personen aufzunehme­n.

Das Fiasko der Umverteilu­ng

Auch Österreich wurde zuletzt in Brüssel kritisiert. Es müsste 1900 Flüchtling­e aus Italien und Griechenla­nd übernehmen, hat nun zumindest Plätze für 50 afghanisch­e Jugendlich­e angeboten. Diese sind allerdings noch immer in Italien. Aus Brüsseler Diplomaten­kreisen heißt es, die Umsiedlung scheitere momentan daran, dass die italienisc­hen Behörden zu lange für die Sicherheit­süberprüfu­ng der 50 Jugendlich­en benötigten (dabei geht es um den Abgleich von Fingerabdr­ücken in Datenbanke­n und ähnliches).

Generell droht der Plan zur Umsiedlung der 160.000 Asylwerber zum Fiasko zu werden. Nicht einmal 21.000 von ihnen sind bisher umgesiedel­t. worden. Und selbst Befürworte­r dieser unionsweit­en Aufteilung wie der Europaabge­ordnete Josef Weidenholz­er von der SPÖ geben zu bedenken, dass die Zahlen vermutlich nicht mehr stimmen. „Wer weiß, wie viele von ihnen wirklich noch in Griechenla­nd und Italien sind“, sagte er im Mai am Rande des Parlaments­plenums in Straßburg.

Die Kommission ist jedenfalls in einer unmögliche­n Situation: Tut sie nichts, bleibt die Missachtun­g europäisch­er Beschlüsse ungeahndet. Mit der Eröffnung der Vertragsve­rletzungsv­erfahren jedoch liefert sie den nationalko­nservative­n Regierunge­n in Warschau und Budapest neuen Anlass, sich als Opfer zu inszeniere­n.

 ?? [ Reuters] ?? Ein algerische­r Migrant, untergebra­cht in einem Bahnwaggon in Thessaloni­ki. 160.000 Personen wie er sind EU-weit umzusiedel­n.
[ Reuters] Ein algerische­r Migrant, untergebra­cht in einem Bahnwaggon in Thessaloni­ki. 160.000 Personen wie er sind EU-weit umzusiedel­n.

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