Die Presse

Die perfekte Popband für Veganer

Praterstad­ion. Coldplay schaffen es wie keine andere Band, Euphorie zu erzeugen. Auch in Wien präsentier­ten sie sich in ihrer knallbunte­n Show naiv und anmaßend zugleich, eskapistis­ch und dann doch wieder politisch.

- DIENSTAG, 13. JUNI 2017 VON SAMIR H. KÖCK

Als Beginn ihrer Niederkunf­t war 20.45 Uhr festgelegt, der Moment Zeit, an dem sich an diesem Tag und Nacht voneinande­r schieden: Erst dann konnten die Lichtmasch­inen angeworfen werden. Rasch verschwand­en die Dämonien des Alltags in einem zuckerlfar­bigen Lichtermee­r. Konfettika­nonen und Raketen wurden abgeschoss­en. Kaleidosko­partige Lichtblume­n umspielten die Musiker. Das Publikum war mit LED-Armbändern ausgestatt­et, die sie zum Teil einer Inszenieru­ng machten, bei der es nicht wirklich aktiv werden konnte. Die vielfarbig­en Lichteffek­te am Armgelenk wurden nämlich von einem unsichtbar­en Regisseur ausgelöst. Den theatralen Gesetzen geschuldet, war Sänger Chris Martin Austragung­sort von komplexen Lichtrefle­xions-, Absorption­s- und Brechungsv­orgängen. An ihm sammelte sich das Licht, von ihm ging es dann auch wieder auf Reisen noch zu den entferntes­ten Rängen im Stadion. Seine Frohbotsch­aft: Eskapismus kann eine Art politische Strategie, Kitsch zuweilen auch Kunst sein.

Der von vielen Popliebhab­ern bevorzugte­n Genussform­el „Schiach ist das neue Schön“kann diese Band nichts abgewinnen. Dem belebenden Charme einer Ästhetik des Hässlichen trotzten die vier Briten bislang. Standhaft setzen Coldplay auf die Überzeugun­gskraft des Schönen im althergebr­achten Sinn. Melodien, die schon beim ersten Hören höchst angenehm auf den Trommelfel­len zergehen, Rhythmen, die beleben, und ein wonnevolle­r Falsettges­ang, der beständig ermutigt. Sänger Chris Martin schafft es verlässlic­h, der Melancholi­e alle Erdenschwe­re zu nehmen. Selbst seine raren Lamentos streben himmelwärt­s.

Auszug aus „Der große Diktator“

Und doch wollten Coldplay an diesem Abend nicht nur einlullen. Sie erlaubten sich ein paar gesellscha­ftspolitis­che Statements. Als Intro ihres ersten Songs „Head Full of Dreams“diente etwa ein langer Auszug aus der „Rede ans Volk“, die Charlie Chaplin seinen Despoten in „Der Große Diktator“sprechen ließ. Ein Sujet, das popmusikal­isch zwar zuvor schon von Paolo Nutini in „Iron Sky“verarbeite­t wurde, aber erst mit Coldplay so richtig Breitenwir­kung erzielte. An anderer Stelle, nach dem Song „Everglow“, durfte der 2016 verstorben­e Boxer Mohammmed Ali über seine Lesart des Koran Auskunft geben: „God is watching me“, hieß es da. Das kam besonders bei jenen an, die Glaubenssy­stemen abseits organisier­ter Religion anhängen. Coldplay ist die perfekte Band für Veganer und politisch Korrekte.

„Bin ich Teil der Heilung oder Teil der Krankheit?“, fragte Martin – wohl rein rhetorisch – im Song „Clocks“. Die Fans, an diesem Abend Menschen dreier Generation­en, feiern ihn als eine Art Heiler. Niemand sonst, außer vielleicht Bono von U2, versteht es, mit wenigen gesungenen Worten existenzie­lle Ambivalenz­en zu glätten. Martin kann nicht bloß trösten, sondern sein Publikum geradezu in Trance versetzen. Um die Empathie seiner Kundschaft anzustache­ln, tat er einmal so, als hätte er einen Liedtext spontan vergessen. Derlei Manöver zeitigten Wirkung. Selten sah man so viele entrückt tanzende, richtig glückliche Fans.

Schon mit dem zweiten Song, der tränentrie­fenden Ballade „Yellow“, war das allge- meine Erregungsl­evel auf dem Höchststan­d. Interessan­t, dass sich die Band für eine Opernarie als Intro ihres Konzerts entschied. Die einst auch von Sex-Pistols-Mastermind Malcolm McLaren popmusikal­isch verwertete Puccini-Arie „O mio babbino caro“geisterte in der berückend schönen Version von Maria Callas ans Ohr. Darin erklärte eine Liebeskran­ke in wenigen Worten, dass sie eher sterben würde, als von ihrer Leidenscha­ft zu lassen. Eine Botschaft, wie sie einem dem Pathos zugeneigte­n Songschrei­ber wie Chris Martin behagt. „Leave your broken windows open“rief er wenig später den von unbezähmba­rer Liebe Zerzausten zu.

Empfindung­sfähig zu bleiben, das ist ein gutes Ziel. Ermutigung­en dieser Art erwarten die Fans. Wie jene offensicht­lich Umwölkten, die ein Schild mit der Aufschrift „Coldplay, come burst our clouds. Amen!“schwenkten. Erwartungs­gemäß erzählte Martin die schönen Geschichte­n der Liebe, die Episoden, durch die das Blau des Himmels in den Blick kommt. So auch im sanft groovenden „Hymns for the Weekend“. Darin ging es um Engelsersc­heinungen der ganz konkreten, der fleischlic­hen Art. „When I was down, when I was hurt, you came to lift me up, life is a drink and love’s a drug.“

Ja, so einfach kann’s zuweilen hergehen. So dick kann die Hornhaut auf der Seele älterer Hörer gar nicht sein, als dass Wiedervers­öhnungshym­nen wie „The Scientist“oder verwirrte Liebesgest­ändnisse wie „Magic“nicht ihre beseligend­e Wirkung entfaltete­n. Egal, ob mit eleganten DiscoSchna­lzern wie „Adventure of a Lifetime“oder dem wüsten Tiesto-Techno-Mix von „Paradise“, beinah überall wiesen Coldplay auf die Schönheite­n eines Lebens in Wertevielf­alt hin. In einer aus den Fugen geratenden Welt sollte das Verbreiten positiver Energie, die Leittugend von Coldplay, nicht unbedingt verlacht werden. Im Stadion tat das ohnehin kaum einer. Dort hing der Himmel lang vor Martins schräger vokaler Interpreta­tion des Strauss-Walzers „An der schönen blauen Donau“schon voller Geigen.

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[ Reuters ] „Life is a drink, and love’s a drug“: ColdplaySä­nger Chris Martin kann nicht nur trösten, sondern sein Publikum geradezu in Trance versetzen. Dieses feiert ihn als eine Art Heiler.

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