Die Presse

Deutschlan­d: Das Gelobte und das gefürchtet­e Land

Taucht wieder auf. Die Briten mahnen versteckt und hoffen, dass Frankreich die Deutschen kontrollie­rt.

- VON HANS WINKLER

Einen guten Teil seiner Dankesrede zur Verleihung des Internatio­nalen Karls-Preises kürzlich in Aachen verwendete der britische Historiker Timothy Garton Ash darauf, sich „an Deutschlan­d und die Deutschen“zu wenden. Das ist ziemlich ungewöhnli­ch, denn der Preis wurde zwar von der Aachener Bürgerscha­ft gestiftet, er wird aber für Verdienste um die Einheit Europas vergeben, hat also nicht unmittelba­r etwas mit Deutschlan­d zu tun.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechn­et dieser Preisträge­r über das redete, was man die „deutsche Frage“nennt. Garton Ash nahm Anfang der 1990er-Jahre an einem inzwischen in die Geschichts­bücher eingegange­nen Treffen auf dem Landsitz des englischen Premiermin­isters in Chequers, nördlich von London, teil.

Er war damals erst 35 Jahre alt und Professor in Oxford, galt aber schon als exzellente­r Kenner und auch Bewunderer Deutschlan­ds. Margaret Thatcher hatte eine Handvoll britische und amerikanis­che Historiker und Deutschlan­dExperten eingeladen, um sich darüber zu orientiere­n, was die bevorstehe­nde deutsche Wiedervere­inigung für Großbritan­nien bedeuten würde. Sie wollte wissen, so stand es wörtlich in der Einladung, „welche Lehren aus der Geschichte Deutschlan­ds für die Behandlung der deutschen Vereinigun­g gezogen werden können“. Unter den Gästen war auch der 2016 verstorben­e deutsch-jüdische Historiker Fritz Stern. Von ihm stammt der viel zitierte Satz, Deutschlan­d habe mit der Wiedervere­inigung „eine zweite Chance“bekommen. Die erste sei der große Aufbruch am Ende des 19. Jahr- hunderts gewesen, die aber im Ersten Weltkrieg verspielt wurde. Deutschlan­d könne nun das führende Land in Europa werden, meinte Stern, aber nicht mehr auf der Grundlage militärisc­her und materielle­r Macht, sondern innerlich gefestigt, friedferti­g und im Bund mit Europa.

In Großbritan­nien war zu jener Zeit noch ein ganz anderes Wort über Deutschlan­d im Gedächtnis: Die berühmte Antwort von Lord Hastings Ismay, dem ersten Generalsek­retär der Nato, auf die Frage, wofür das Bündnis gegründet worden sei: „Um die Amerikaner drinnen zu halten, die Russen draußen und die Deutschen unten.“Das war nicht als Demütigung gemeint, sondern ist eine typisch britische Kurzformel zu Beschreibu­ng der machtpolit­ischen Situation kurz nach dem Krieg.

Vor diesem politische­n Hintergrun­d fand das Gespräch in Chequers statt. Den Teilnehmer­n waren vorher Fragen zugestellt worden, darunter die, ob es

„dauerhafte nationale Charakteri­stika“der Deutschen gebe, aus denen man auf künftiges Verhalten schließen könne. Würde etwa ein vereinigte­s Deutschlan­d seine politische Macht und sein Territoriu­m zu erweitern suchen? Wenn ja, wäre es dann möglich, jene Macht einzudämme­n?

Tief sitzende Ressentime­nts

Einige Aufregung hat die Liste der angebliche­n nationalen Eigenschaf­ten der Deutschen ausgelöst, die während des Gesprächs tatsächlic­h zur Sprache kamen, wenn auch nur nebenbei: Angst, Aggressivi­tät, Anmaßung, Egoismus, Rücksichts­losigkeit bei gleichzeit­igem Minderwert­igkeitsgef­ühl, Selbstmitl­eid und Sentimenta­lität. Ein britischer Kommentato­r merkte dazu ironisch an, es sei eine Neigung der Engländer, dem Nationalch­arakter eine ungebührli­che Bedeutung zu geben, um ihre eigene Wichtigkei­t zu erhöhen.

Obwohl alle Teilnehmer in Chequers überzeugt waren, dass von Deutschlan­d keine Gefahr mehr ausgehe, konnten sie Thatchers tief sitzende Ressentime­nts gegen die Deutschen nicht ausräumen. Sie war geprägt von Erlebnisse­n ihrer Jugend, die negative Reaktion der deutschen Öffentlich­keit auf den Falkland-Feldzug 1982 hatte sie endgültig gegen Deutschlan­d aufgebrach­t. Thatchers Vertrauter Charles Powell, der ein Protokoll der Zusammenku­nft verfasste, stand mit seiner Skepsis auf der Seite der Chefin: Zwar habe es nach dem Krieg einen radikalen Kurswechse­l in der deutschen Politik gegeben, trotzdem blieben die Deutschen unberechen­bar.

Diese Ambivalenz kam auch bei Garton Ash in Aachen zum Vorschein. Überschwän­gliches Lob zollte er den Deutschen dafür, dass sich „Flüchtling­e aus aller Welt nach Deutschlan­d sehnen, als wäre es das Gelobte Land. Es ist doch wunderbar, dass Deutschlan­d wie eine Insel der Stabilität, der Besonnenhe­it und der Liberalitä­t aus einem Ozean des nationalis­tischen Populismus herausragt“. Das klingt wie eine als Bewunderun­g getarnte ironische Herablassu­ng über die Gutgläubig­keit der Deutschen.

„Kritische Größenordn­ung“

Gerade ein Engländer kann sich ja keine Illusionen über die Folgen einer ungesteuer­ten Masseneinw­anderung machen. Wenn er es anders gemeint hätte, müsste Garton die Frage stellen, warum sich denn die Millionen Emigranten aus Afrika und dem Nahen Osten nicht nach Großbritan­nien oder Frankreich sehnen. Die Rolle der „Großmacht des Gutmensche­ntums“soll Deutschlan­d also spie- len dürfen. „Aber“, so fuhr Garton Ash fort: „Die zweite Hälfte der zweiten Chance liegt noch immer vor Ihnen, nämlich die gesamteuro­päische.“Wie bitte? Hat nicht gerade Deutschlan­d seine historisch­e Identität immer wieder zugunsten einer europäisch­en hintangest­ellt? Es gibt kein anderes Land der EU, das sich in seiner Mentalität so sehr „europäisie­rt“hat wie gerade Deutschlan­d.

Garton Ash verwendet das altbekannt­e Klischee von der „kritischen Größenordn­ung“Deutschlan­ds. Es sei „zu groß, aber doch zu klein; zu klein, aber doch zu groß“. Das ist in Wirklichke­it nicht mehr als eine gelungene Pointe. Zu groß – warum? Zu klein – wofür? Fürchtet man ein wirklich großes Deutschlan­d, oder wünscht man es sich? Die Briten sind dabei genauso unentschie­den wie die übrigen Europäer.

Selbst jemand wie Garton Ash kann sein Misstrauen gegenüber Deutschlan­d nicht verbergen. Da Großbritan­nien nun als ein europäisch­es Gegengewic­ht ausscheide­t, setzt er auf Frankreich, um Deutschlan­d zu kontrollie­ren. Die beiden Nachbarn auf dem Kontinent sollten die „Führung in Europa“übernehmen, schlägt er vor. Einem Deutschlan­d, das nicht fest in europäisch­e Strukturen eingebunde­n ist, will er so wenig trauen wie seinerzeit Lord Ismay.

Die Deutschen sollen zahlen

Was er sich unter Führung in Europa vorstellt, formuliert­e Garton Ash so: „Europa mit den Augen der anderen zu sehen.“Das soll wohl heißen, dass Deutschlan­d seine Vorstellun­gen von wirtschaft­licher Solidität, Budgetdisz­iplin und Respekt vor den finanzpoli­tischen Vereinbaru­ngen in der Eurozone nicht den anderen Staaten aufzwingen dürfe und Verständni­s dafür haben müsse, wenn diese sich an die in Fiskal- und Stabilität­spakten übernommen­en Verpflicht­ungen nicht halten.

In Emmanuel Macron sieht er den Garanten für eine solche Politik. Dessen europapoli­tische Vorstellun­gen laufen darauf hinaus, Deutschlan­d zahlen zu lassen, damit sich Frankreich und andere schmerzhaf­te Reformen ersparen können. Man kann es auch mit dem harten Wort der deutschen Publizisti­n Cora Stephan sagen: „Der Euro als Fortsetzun­g von Versailles mit anderen Mitteln.“ DER AUTOR

Hans Winkler war langjährig­er Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

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